Essen. Vor einem Jahr schlugen vier Kugeln in die Tür des Rabbinerhauses ein. Für den Anschlag ist bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen worden.

Es ist der Morgen des 18. November 2022, als Oberbürgermeister Thomas Kufen, Innenminister Herbert Reul und Essens Polizeichef Detlef Köbbel zum zentralen Ort jüdischer Geschichte in der Stadt eilen. Von einem „Anschlag“ spricht Reul vor Mikrofonen und Kameras, davon müsse man einfach ausgehen, wenn auf eine Synagoge scharf geschossen werde. „Diese Nachricht bestürzt mich sehr“, diktiert Essens Stadtoberhaupt in die Blöcke zahlreicher Journalisten: „Wir stehen der jüdischen Kulturgemeinde in diesen schweren Stunden bei.“

Keine zwölf Stunden zuvor, am späten Abend des 17. November, hatten Kugeln die Tür des Rabbinerhauses an der Alten Synagoge im Herzen von Essen durchschlagen, eins von vier Projektilen blieb in einer Scheibe stecken. Es konnte das Sicherheitsglas nicht durchdringen. Verletzt wurde glücklicherweise niemand. Dennoch: „Das war ein Schock für mich, eine neue Qualität der Gewalt“, erinnert sich Schalwa Chemsuraschwili, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde in Essen, ein Jahr nach den Schüssen nur zu gut.

Der Polizeiapparat wird hochgefahren und es wird mit Hochdruck ermittelt. In den Mittagsstunden nach der Nacht des Anschlags meldet die Polizei um 1.15 Uhr ein erstes mögliches Packend: „Uns wurde eine Videoaufnahme zur Verfügung gestellt, auf der eine Person bei einer Schussabgabe zu erkennen sein könnte. Aufgrund der schlechten Aufnahmequalität können noch keine genauen Angaben gemacht werden.“

Eine gewisse Unschärfe ist bis heute geblieben

Mit dieser unscharfen Aufnahme fahndete die Polizei.
Mit dieser unscharfen Aufnahme fahndete die Polizei. © Polizei Essen

Diese gewisse Unschärfe in dem erschütternden Kriminalfall ist geblieben, daran konnte auch der Generalbundesanwalt nichts ändern, der die Ermittlungen Anfang Dezember des vergangenen Jahres an sich zog. Es stand der Anfangsverdacht im Raum, dass eine kriminelle Vereinigung ihr staatsgefährdendes Unwesen trieb. Eines ihrer Mitglieder soll für den Anschlag in Essen verantwortlich sein. Das Verfahren gegen den Beschuldigten läuft nach wie vor, bestätigte eine Sprecherin der Karlsruher Behörde beim Bundesgerichtshof am Donnerstag.

Nun ist es ist nicht so, dass die Behörden und die Ermittlungskommission „Schnellweg“ beim Landeskriminalamt keinerlei halbwegs konkreten Verdacht hegten, doch der Täter konnte bis heute nicht überführt werden. Dass die Ermittler durchaus einen Verdächtigen im Visier haben, zeigt ein Umstand aber deutlich: Mit richterlicher Zustimmung wurden am 15. Februar 2023 zwei Wohnungen und auch der Beschuldigte selbst durchsucht, heißt es in einem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15. Juni. Vermutlich dauert die Auswertung der dabei sichergestellten Beweismittel noch an.

Dabei meinten die Fahnder schon drei Tage nach dem Anschlag ganz nah dran zu sein. Ein Spürhund hatte Witterung aufgenommen und führte Polizisten von der Alten Synagoge auf die nahe gelegene A 40. Gab es etwa eine Fährte nach Bochum und Dortmund, wo in auffälliger zeitlicher und räumlicher Nähe zu Essen weitere Anschläge auf jüdische Einrichtungen geplant beziehungsweise fehlgeschlagen waren?

Mittäter für einen Brandanschlag gesucht

Während Herbert Reul im Innenausschuss des Landtages andeutete, es gebe zwischen den insgesamt drei Taten womöglich einen Zusammenhang, teilte die Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf mit: „Ein 35-jähriger Beschuldigter, der über die deutsche und iranische Staatsangehörigkeit verfügt, ist dringend verdächtig, Mitte November 2022 versucht zu haben, einen Zeugen als Mittäter für einen Brandanschlag auf die Synagoge in Dortmund zu gewinnen.“

Kugeln durchschlugen den Rahmen der Eingangstür zum Rabbinerhaus der Alten Synagoge.
Kugeln durchschlugen den Rahmen der Eingangstür zum Rabbinerhaus der Alten Synagoge. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Dieser „Zeuge“ jedoch wandte sich lieber an die Polizei. Zu einer Tat in Dortmund kam es folglich nicht. Wohl aber am späten Abend des 17. November in Bochum, als ein Molotowcocktail auf eine Schule geschleudert wurde, die unmittelbar an den rückwärtigen Teil der dortigen Synagoge grenzt. Bei dem Feuerteufel soll es sich um Babak J. handeln und damit um denselben Mann, der einen Komplizen für die Tat in Dortmund gesucht hatte.

Zehn Monate später kommt im Prozess vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht heraus, dass J. wohl kalte Füße bekommen hatte, weil die Synagoge in Bochum zu gut bewacht war. Um seinen angeblichen Auftraggeber nicht weiter zu erzürnen, nachdem er schon niemanden für eine Tat in Dortmund hatte gewinnen können, soll er den Brandsatz deshalb nicht auf die jüdische Einrichtung, sondern auf die benachbarte Schule geworfen haben. Der Schaden war glücklicherweise nicht allzu gravierend.

Kontakte zu den iranischen Revolutionsgarden

Als Strippenzieher im Hintergrund für all dieses hochkriminelle Treiben haben die Ermittler Ramin Y. ausgemacht, der sich vor über zwei Jahren in den Iran abgesetzt haben soll. Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass dieser Mann, der unter anderem wegen Mordes im Rockermilieu international gesucht wird, auf Weisung der iranischen Revolutionsgarden so etwas wie ein Operativ-Kommando für Anschläge in Deutschland leitet, während einer seiner mutmaßlichen Handlanger auf der Düsseldorfer Anklagebank Platz nimmt.

Am Morgen nach dem Anschlag auf die Alte Synagoge suchten Oberbürgermeister Thomas Kufen, Innenminister Herbert Reul und Polizeichef Detlef Köbbel (v.re.) nach Antworten.
Am Morgen nach dem Anschlag auf die Alte Synagoge suchten Oberbürgermeister Thomas Kufen, Innenminister Herbert Reul und Polizeichef Detlef Köbbel (v.re.) nach Antworten. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Erst seit dem Beginn der Hauptverhandlung gegen den inzwischen 36-jährigen Babak J. im September ist öffentlich bekannt: Für die Schüsse auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge kommt nicht er in Betracht, sondern ein weiterer Beschuldigter, zu dem die Behörden allerdings keine näheren Angaben machen – außer, dass auch er von Ramin Y. beauftragt worden sein soll.

Schlussendlich aufgeklärt werden konnte bislang nur der Hintergrund eines weiteren angeblichen antisemitischen Angriffs in Essen: Einen Tag nachdem die Kugeln am Edmund-Körner-Platz eingeschlagen waren, wurden an der Neuen Synagoge an der Sedanstraße Löcher entdeckt, die augenscheinlich ebenfalls von Einschüssen hätten herrühren können. Ballistiker untersuchten die verdächtigen Stellen, Teile des Daches wurden abgenommen, darunter allerdings keine Projektile entdeckt, erinnert sich Schalwa Chemsuraschwili: „Es waren ältere Beschädigungen, die mit einem Gegenstand verursacht worden sind.“ Von wem, ist auch in diesem Fall nicht klar.