Essen. Wie wollen wir im Alter leben? Kinofilm über Essener Protagonisten stellt verschiedene Modelle vor. Dazu zählt auch eine ganz besondere Pflege-WG

Das Alter selbstbestimmt gestalten und dabei ungewöhnliche Wege gehen – das ist das Thema des Dokumentarfilms „Vielfalt: Altwerden selbst stricken“ (Regisseur Gerardo Milsztein), der in der Lichtburg Premiere feierte. Gedreht wurde überwiegend im GeKu-Haus in der nördlichen Essener Innenstadt, einem Mehrgenerationenprojekt, das der Unternehmer Reinhard Wiesemann (62) 2012 ins Leben gerufen hat.

Zärtlich streicht Margareta Rintelen dem 20-jährigen Tobi über den Kopf. Der junge behinderte Mann genießt die Berührung und schenkt der 93-Jährigen ein strahlendes Lächeln. Gemeinsam mit der 86-jährigen Margitta Wiesemann und sechs behinderten Männern lebt sie auf einer Etage des Geku-Hauses, die zur Pflege-WG umgebaut wurde. „Wir wollten unsere betagten Mütter zu uns holen und gleichzeitig eine ungewöhnliche WG gründen“, erzählt Monika Rintelen.

Junge behindert Männer leben mit betagten Seniorinnen unter einem Dach

Die 70-Jährige ist, wie Reinhard Wiesemann, bereits seit mehreren Jahren Teil der Gemeinschaft, in der sie auch ihr Alter verbringen möchte, und hatte die Idee, einen Dokumentarfilm über das Geku-Haus zu drehen. Und nicht nur das: Gezeigt werden auch die Leben-im-Alter-Entwürfe ehemaliger Bewohner, die einen anderen Weg eingeschlagen haben. Herausgekommen ist ein berührendes aber auch humorvolles Plädoyer dafür, sich frühzeitig mit dem Älterwerden zu beschäftigen.

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Es sind vor allen Dingen die ungestellten, authentischen Bilder, die den über 1000 Premierenbesuchern, die meisten von ihnen jenseits der 55, ans Herz gehen oder die sie schmunzeln lassen. Wenn zum Beispiel Reinhard Wiesemann zusammen mit seiner Mutter Familienfotos aus längst vergangenen Zeiten schaut und dabei sentimental in Erinnerungen schwelgt, während die Mutter trockene, kurze Bemerkungen einwirft. Oder wenn die 93-jährige Margareta Rintelen, die bereits dementiell verändert ist, still zu weinen beginnt und von der Krankenpflegerin Aurea, die selbst schon 72 ist, getröstet wird. Man versteht sich auch ohne Worte und begegnet sich mit Respekt und Zuneigung – das zumindest transportiert der Film, der ohne Erklärungen aus dem Off auskommt und nur die Protagonisten sprechen lässt.

Marga Weindorf strickt sich ihr Leben schön

Einen anderen Weg für ihr Alter haben Wolfgang Nötzold und Marga Weindorf eingeschlagen. Nötzold, der seit vielen Jahren aktiv in der nördlichen Innenstadt und dem Nordviertel ist, hat wie Marga eine Zeitlang im Geku-Haus gelebt. Der 74-Jährige befindet sich immer noch im Unruhestand und beschäftigt sich besonders mit den Themen Altersarmut und aktives Leben nach der Rente. Dafür hat er gemeinsam mit Mitstreitern die Plattform „Mäuse für Ältere“ ins Leben gerufen, die Stellenangebote für Menschen jenseits der 65 anbietet. „Von unserer beruflichen Erfahrung können doch noch viele profitieren“, lautet seine Devise. Außerdem würden nicht alle Senioren eine ausreichende Rente beziehen und müssten sich etwas dazuverdienen.

Neue Reihe „CineDivers“

Der Film ist Teil der Reihe „CineDivers“, die das Vielrespektzentrum ins Leben gerufen hat. Insgesamt sechs Filme werden in den Kinos der Essener Filmkunsttheater in den nächsten Monaten gezeigt. Mehr dazu unter www.vielrespektzentrum.de/cinedivers

Dort erfährt man auch, wann „Vielfalt: Altwerden selbst stricken“ noch einmal gezeigt wird.

Derweil strickt sich Marga Weindorf im Film wie in der Realität ihr Leben schön. Ob Mützen und Schals, Puppen und Tiere, Taschen und Schmuck, die 84-Jährige ist geradezu wollsüchtig. Der Kamera erzählt sie ein wenig von ihrer unglücklichen Kindheit, dem Gefühl, ungeliebt und nichts wert gewesen zu sein. Ein Gefühl, das sie inzwischen hinter sich gelassen hat. Heiter führt sie in ihrer kleinen, vollgestellten Ein-Raum-Wohnung ihre ungewöhnlichen Kreationen aus Wolle und Perlen vor und spricht davon, andere nur noch glücklich machen zu wollen. Angst vor dem Tod habe sie nicht, für ihre Beerdigung hat sie bereits das von ihr gesungene Ave-Maria aufgenommen. Stolz trägt sie es extra für den Film auf der Empore der Gertrudiskirche stehend vor. Mit Fassung scheint sie auch ihre Krebserkrankung zu tragen. Die Filmpremiere indes hat sie nicht mehr erleben können.

Der Film regt an, sich rechtzeitig Gedanken zu machen übers Altern

Immer auf Achse ist die Diakonissin, Autorin und Krankenschwester Brigitta Schröder. Ihre Schwesterntracht zieht sie nur zum Schlafen und beim Sport aus. Die 88-Jährige pendelt zwischen ihrer Heimat Schweiz und Essen und schult immer noch Alltagshelfer zum Thema Demenz. Ihre Energie wirkt ungebrochen und ansteckend. Das findet auch das Publikum und quittiert so manche Szene mit Applaus.

„Ein Film, der Mut macht, ein Film, der zeigt, dass man jenseits von Pflegeheimen oder ambulanter Krankenpflege auch andere Wege gehen kann “, lautet die einhellige Meinung. Und eine Besucherin bringt es für sich auf den Punkt: „Mir hat der Film gezeigt, dass ich mir rechtzeitig Gedanken machen muss, wie ich alt werden möchte. Eines steht fest: Auf keinen Fall alleine.“