Essen. Als Kind hat Dinçer Güçyeter im Bordell des Onkels Pornofilme sortiert. Sein Roman gewinnt nun große Literaturpreise. Ein Besuch bei der Lit.Ruhr
Dinçer Güçyeter hat in seinem Leben schon vieles gemacht: Als junger Mann hat er eine Lehre als Mechaniker gemacht, im Bordell des Onkels hat er als Kind Pornokassetten einsortiert. Nun, mit 44 Jahren, ist der Nachkomme anatolischer Einwanderer und immer noch Gelegenheits-Gabelstaplerfahrer, ein gefragter Buchautor: Im Mai dieses Jahres bekam er den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse, 2022 wurde er mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Noch Pläne? „Ich würde auch gerne mal Bauchtänzer sein“, lacht Güçyeter an diesem Abend bei der Lit.Ruhr auf dem Sofa mit der Schriftstellerin Mithu Sanyal. Und man spürt schnell: Selten war ein Gast des großen Lesefestes im Ruhrgebiet auch so ein begnadeter Meister im Understatement.
Von den Frauen im Bordell bekommt er die ersten Malbücher
Güçyeter spricht nicht über Inspiration und literarische Vorbilder, er hangelt sich lieber unterhaltsam von einer Anekdote zur anderen. Wenn er über sein Erstlingswerk „Anatolien-Blues“ redet, das er so peinlich fand, dass er alle Restbestände bei Amazon aufgekauft und entsorgt hat. Oder wenn er seine Mutter zitiert, als sie von der renommierten Huchel-Auszeichnung ihres Sohnes erfuhr: „Zwei Jahre Pandemie und alle haben den Verstand verloren!“
Im Lachen steckt vielleicht immer noch ein wenig das Staunen über die besondere Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs, aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der Güçyeter Literatur und Leben verquickt. „Unser Deutschlandmärchen“ ist seine Familiengeschichte, vor allem die Geschichte seiner Mutter und Großmutter, deren Erzählungen er immer wieder aufgegriffen hat. Das Buch sei „eine Verneigung vor den Frauen“, sagt Güçyeter, auch vor den Kolleginnen in der Fabrik und den Sexarbeiterinnen im Bordell seines Onkels, die ihm damals die ersten Malbücher geschenkt haben. Heute ist Güçyeter nicht nur Autor, sondern auch Leiter eines kleinen Verlags. Seine Mutter staunt noch immer, dass man mit Geschichtenerzählen sein Geld verdienen kann. Aber ab und an geht der Familienvater ja auch noch mal Gabelstapler fahren.
Bei der Lit.Ruhr ist immer auch Musik drin. Stoppok hat hier schon übers Songwriting gesprochen, Campino war auch schon da. In diesem Jahr steht einer am Lesepult, der Anfang der 1980er auf der „Neuen Deutschen Welle“ an die Spitze der Charts gesurft ist. „Fred vom Jupiter“ hieß der Titel, mit dem Andreas Dorau bekannt wurde. Dass der Song nicht allein aus seiner Feder stammte, sondern bei einer Projektwoche an der Hamburger Otto-Hahn-Gesamtschule entstand, hat hinterher für ein bisschen Trubel gesorgt. Vermarktungs-Einnahmen mussten am Ende geteilt werden. Den Ruhm hat ihm keiner nehmen können.
Auch 40 Jahre nach dem Jupiter-Song gehört Dorau noch zu den stillen, aber beständigen Exzentrikern der Szene, der mit seinen Dada-verdächtigen Texten und den fluffigen Elektropop-Sounds immer wieder neue Kapitel aufschlägt – mittlerweile auch als Autor. Mit Sven Regener hat Dorau bereits das zweite Buch herausgebracht. „Die Frau mit dem Arm“. Auf Zollverein gab es nun eine etwas andere Lesung daraus.
Der eine liest, der andere zeigt kleine Videos und Bilder – so lautete die Arbeitsteilung der beiden eher unorthodoxen Erzähler, die gemeinsam gegen den Strom der künstlerischen Konformität anrudern. Regener ist mit seiner Band „Element of Crime“ und seiner Romanfigur „Herr Lehmann“ diesbezüglich erfolgreich. Dorau macht immer was mit Kunst, auch wenn er sich dabei manchmal als Schiffskapitän verkleidet und unter Hypnose sogar den Fred vom Jupiter zurückholt.
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