Essen. Vor 50 Jahren beginnen die Dreharbeiten mit dem legendären TV-Kommissar Haferkamp. 1974 kommt Essen mit dem Tatort im Ersten groß raus.
Es ist die erfolgreichste und älteste Krimi-Serie im deutschen Fernsehen: der „Tatort“. Ein Kult-Format, das auch Essen für einige Jahre zur besten Sendezeit auf die Mattscheibe brachte. Der Essener Kommissar Heinz Haferkamp ermittelte zwischen 1974 und 1980 in 20 Fällen: von „Acht Jahre später“ bis „Schönes Wochenende“. Und hat Fernsehgeschichte geschrieben. Haferkamp, gespielt von Hansjörg Felmy, zählt noch immer zu den beliebtesten Tatort-Kommissaren aller Zeiten. Die Dreharbeiten begannen vor genau 50 Jahren. Zu einem der besten Haferkamp-Kenner zählt der Essener Helge Conrad, von Beruf Stadtplaner in Essen.
Sein immenses Detailwissen über Haferkamp & Kreutzer (Willy Semmelrogge), über Drehbücher und Essener Drehorte, über Anekdoten und Hintergründiges will der Tatort-Kenner nicht für sich behalten. Am Donnerstag (14. September um 18 Uhr) hält der 36-Jährige im Haus der Essener Geschichte einen Vortrag mit dem Thema: „Die inszenierte Stadt – Essen in den WDR-Tatorten der 1970er Jahre“.
„Die inszenierte Stadt – Essen in den WDR-Tatorten der 1970er Jahre“
Wir verabreden uns hoch oben im Essener Norden: vor dem Stadion Lindenbruch in Katernberg. Ein Ort, der allein schon deshalb Fußballgeschichte geschrieben hat, weil der junge Helmut Rahn, der spätere Held von Bern und RWE-Star, hier für die Sportfreunde Katernberg gekickt hat.
Im Februar 1976 drehen sie am Lindenbruch den achten Haferkamp-Tatort „Fortuna III“. Längst ist das Stadion ein „Lost Place“. Das alte Vereinslokal, ein Bügeleisenhaus, ist unbewohnt, überall Graffiti, eingeschlagene Scheiben und Scherben, Brombeersträucher und Wildwuchs. Zur Gelsenkirchener Straße hin haben sie das Gelände einigermaßen abgesichert. Doch wer will, findet mühelos eine Lücke im Bauzaun. Alle paar Minuten rast ein Zug über den zugewachsenen Damm der Köln-Mindener-Eisenbahn. Genauso wie im Film.
Für den Essener Tatort-Experten ist dies ein besonderer Ort. „Das Stadion am Lindenbruch ist einer der wenigen noch erhaltenen Tatort-Drehorte in Essen – ein Klassiker bis heute“, sagt Helge Conrad. Nicht nur das: „Fortuna III“ zähle zu den wenigen Essen-Tatorten, die im Arbeitermilieu spielen. In den meisten Folgen ermittelt Heinz Haferkamp lieber in bürgerlichen oder gar wohlhabenden Stadtteilen wie etwa Bredeney mit seinen schicken Villen. „Dieser Drehort in Katernberg spiegelte damals das Ruhrgebiet am ehesten wider.“ Es ist die Zeit des Zechensterbens, des Niedergangs von Kohle und Stahl. Nur zehn Jahre später wird die letzte Schachtanlage der Stadt schließen: Zollverein.
Der damalige Polizeipräsident regt sich auf: „Zu viel Proleten-Image im Essener Tatort“
Fortuna III ist der Name einer fiktiven Essener Zeche, die schon die Förderung eingestellt hat. Als Kulisse für das Film-Bergwerk dienten die Gebäude der Zeche Pörtingsiepen nahe dem Baldeneysee, wo 1973 tatsächlich Schicht am Schacht war. Eigens für den Tatort haben sie das Katernberger Stadion umbenannt, indem sie das Lindenbruch-Schild über dem Eingang durch „S. V. Fortuna III“ ersetzt haben.
Allein schon die Bilder des matschigen Fußballplatzes sorgen dafür, dass sich die Tristesse beim Zuschauer einprägt. „Der damalige Essener Polizeipräsident Hans Kirchhoff hat sich sehr über ‘Fortuna III’ aufgeregt, weil diese Tatort-Folge der Stadt seiner Ansicht nach ein Proleten-Image verpasst hat“, sagt Conrad. Und auch in der Stadtspitze, so heißt es, hätten sie das ein oder andere Mal pikiert die Nase gerümpft über das im Tatort verbreitete Image der Ruhr-Metropole. Doch der Tatort-Spezialist hält dagegen: „Essen kann sich wirklich nicht darüber beklagen, wie es im Tatort dargestellt wurde.“
So wie über „Fortuna III“ kann Helge Conrad mühelos auch über die anderen 19 Haferkamp-Folgen berichten. Was sein Interesse am Essen-Tatort befeuert hat: „Ich habe mich schon als Schüler für den Tatort begeistert.“ Er nimmt alle Haferkamp-Folgen auf VHS-Cassetten auf und überspielt sie später auf DVD. „Die Cassetten gibt’s immer noch, viele Folgen habe ich mehrfach angeschaut.“
Tatort-Fan Helge Conrad nimmt als Schüler alle Essener Folgen auf VHS-Cassette auf
In der beklemmenden Zeit der Pandemie hat sich Conrad die Haferkamp-Tatorte ein weiteres Mal angeschaut und dabei herausgefunden, dass sich stadtgeschichtlich bis jetzt noch niemand intensiv mit diesem Sujet befasst hat.
Obwohl bis heute einer der beliebtesten Tatort-Kommissare, haben Kritiker den Essener Kommissar als „Anti-Schimanski“ und oftmals als zu bieder abgetan. Der Essener Tatort-Spezialist hingegen bricht eine Lanze für den TV-Helden. „Haferkamp war alles andere als Spießer.“ Er erwähnt sein Faible für Jazzmusik der 1940er Jahre und die für damalige Verhältnisse moderne Beziehung zu seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum), mit der er Museen besucht und nach Italien verreist. „Hansjörg Felmy spielt den Haferkamp mit feinem Humor und viel Ironie“, urteilt Conrad.
Was den meisten Zuschauern damals wie heute entgeht: Die meisten Essener Drehorte befinden sich gar nicht in Essen, sondern in München, dem Sitz der Produktionsgesellschaft Bavaria. Eine grobe Faustregel: Wenn vier Wochen für eine Tatort-Folge gedreht wurde, kam die Crew allenfalls an zehn Tagen ins Ruhrgebiet.
Viele Drehorte des Essen-Tatortes sind längst von der Bildfläche verschwunden
Anhand der Drehort-Liste der Bavaria vermag Helge Conrad Dutzende Stecknadeln in den Essener Stadtplan zu setzen. Etliche Gebäude wie etwa die Zechen Carl Funke, Emil Emscher und Pörtingsiepen oder die Gaststätte „Zum Abzweig“ in Katernberg sind längst von der Bildfläche verschwunden, andere markante Schauplätze - wie etwa die Margarethenhöhe, das Polizeipräsidium, der Friedhof Katernberg und Schloss Hugenpoet – haben die Stürme der Zeit hingegen unbeschadet überstanden. Das Hotel Arnold auf der Manfredstraße 10 in Rüttenscheid (Tatort „Der Mann aus Zimmer 22“) heißt heute Maximilians.
Im Tatort „Zwei Leben“ (1976) zeigt sich Essen von seiner besseren Seite: keine rauchenden Schlote und keine Deputatkohle auf dem Bürgersteig, sondern viel Baldeneysee und blauer Himmel über der Ruhr. Helge Conrad ist sich ziemlich sicher, warum das so war: „Drehbuchautor war Karl-Heinz Willschrei und der ist in Essen aufgewachsen.“
Die Mattscheibe in den 1970er Jahren war eine übersichtliche Angelegenheit: Es gab lediglich das erste Programm, das ZDF und die Dritten, bei Sendeschluss erschien das Testbild. Dementsprechend gering fiel die Zahl der Schaltknöpfe am Fernsehgerät aus.
Duisburg macht mehr aus Schimanski: Büste, Gasse, Führungen
Krimis in jener Zeit waren alles andere als Massenware, pro Monat gab es einen neuen Tatort. Auch von dem Hype, der heutzutage beispielsweise um den Münster-Tatort gemacht wird, konnte damals keine Rede sein. Für die „Süddeutsche Zeitung“ ist der Tatort inzwischen Heimatmuseum und Imagelabor: „Dass Münster inzwischen – von Fremden oder flüchtigen Gästen – als Ort verstanden oder missverstanden wird, an dem vor allem Komiker leben, hat mit dem Tatort-Team Thiel und Boerne zu tun.“
Eine Visitenkarte solchen Kalibers war der Haferkamp-Tatort für Essen zwar nicht, aber könnte man wenigstens im Nachhinein doch etwas mehr daraus machen? Der Tatort-Kenner aus Essen verweist beispielsweise auf Duisburg, das Kommissar Schimanski sogar ein Denkmal gesetzt habe: In Ruhrort stehe eine Schimanski-Büste, außerdem gebe es eine Schimanski-Gasse und Schimanski-Führungen. „Duisburg ist stolz auf Schimanski und trommelt mehr“, sagt Helge Conrad.
Selbst Essen beteiligt sich an dem Schimanski-Kult: In einer Vitrine des Ruhr Museums auf Zollverein ist die Kult-Jacke des Duisburger Kommissars ausgestellt.
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