Essen. Wie die Autorin Fatma Aydemir für das Schauspiel Essen Goethes Tragödie mit feministischem Blick zu „Doktormutter Faust“ überschreibt.
Zur Eröffnung des Schauspiel Essen unter weiblicher Leitung musste schon ein Paukenschlag her. So bat Co-Intendantin und Regisseurin Selen Kara die angesagte und ihr schon lange vertraute Journalistin und Romanautorin Fatma Aydemir („Dschinns“) um eine Klassikerüberschreibung, wie sie landauf, landab populär ist. Dass es dann Goethes deutsches Nationaldrama „Faust“ wurde, hat mit Gretchen zu tun.
„,Faust’ war Pflichtlektüre in der Schule. Und es hat mich schon damals gestört, dass Gretchen in einer Opferrolle steckt“, erzählt Fatma Aydemir über ihren Bezug zu dem Klassiker schlechthin. Abgearbeitet hat sie sich daran damals und heute. In ihrem Debüt als Dramatikerin dreht sie den Spieß um und lässt Gretchen als Figur weg. Welche Konsequenzen das hat, ist in Selen Karas Inszenierung von „Doktormutter Faust“ ab Samstag, 9. September, am Grillo-Theater zu sehen.
Mit der Adaption ihrer Romane kam Fatma Aydemir zum Theater
„Es gab lange keine Berührungspunkte zum Theater“, sagt Fatma Aydemir, deren Großeltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Sie wuchs in einem Vorort von Karlsruhe auf, studierte Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt, war elf Jahre bei der „taz“ in Berlin streitbare Redakteurin und Kolumnistin und schrieb zwei Romane – mit durchschlagendem Erfolg. Es dauerte nicht lange, bis „Ellbogen“ und „Dschinns“ gleich von mehreren Theatern adaptiert wurden, weil sie so nah an der Realität von Zuwanderern, ihrer Kinder und Kindeskinder sind. Selen Kara hatte beide inszeniert, und Fatma Aydemir kam zum Theater.
„Das war sehr spannend. Ich habe die Texte abgegeben. Die Bühnenfassungen wurden von Regisseuren und Dramaturgen gemacht und ich habe noch einmal draufgeschaut. Explizit fürs Theater habe ich noch nicht geschrieben“, berichtet sie. Und als Selen Kara nach einem Stück für die Neueröffnung des Schauspiel Essen fragte, hat es sie gereizt, eine andere Textform auszuprobieren. Dass die Wahl auf Goethes „Faust“ fällt, war schnell klar.
Leicht war es nicht. „Ich habe es unterschätzt, wie eine Geschichte auf die Bühne gebracht werden muss“, gesteht die 36-Jährige. „Ich habe großen Respekt vor der Dramatik, aber keine Berührungsängste. Egal, was ich mache, es wird kritisch beäugt.“
Bei ihrer Faust-Version orientiert sie sich an Goethes Tragödie
Mit feministischem Blick hat sie sich an dem Gerüst von Goethes Meisterwerk orientiert und thematisch den Teufel, den Machtmissbrauch und die Fehlbarkeit des Menschen in einer sehr aktuellen Geschichte verpackt. Der Bezug zu Missbrauchsfällen, wie sie an Universitäten passiert sind, liegt nahe. „Das Böse steckt in den Menschen selbst“, so Fatma Aydemir, die ihre freie Faust-Version in einer fiktiven Gegenwart mit einer rechten Regierung ansiedelt. „Trotzdem finde ich es schwierig, wenn im Bezug auf autokratische Herrscher vom ‚Bösen‘ gesprochen wird. Denn es gibt in solchen Regimen immer auch eine Vielzahl von Menschen, die diese Herrschaft durchaus unterstützen“, erklärt die Autorin den Kunstgriff hinsichtlich des Aufwärtstrends der AfD.
Bedroht von den populistischen Machthabern sind die zumeist geschlechtsverwandelten Figuren jede auf ihre Weise: allen voran die von Sinnkrisen geschüttelte Wissenschaftlerin Margarete Faust, die von ihren Studierenden für ihre feministischen Positionen verehrt wird, aber wegen ihrer Einstellung zu Abtreibungen auf der Abschussliste steht. Ansonsten gibt es viel Wiedererkennungswert. Vorspiel auf dem Theater, Teufelspakt, Auerbachs Keller, Hexenküche, Studierzimmer (hier an der Uni) – fast alles drin. Bis auf Gretchen.
Gretchen gibt es nicht, ihr Schicksal ist in anderen Figuren verarbeitet
Gretchen steht nicht auf der Bühne, doch einige Figuren tragen sie ein stückweit in sich. Faust ist als Opfer und Täterin Gretchen, ihre Doktorandin Valeria, die schwanger verlassen wird, ist Gretchen, und der marokkanische Student Karim, der die Doktormutter braucht, um im Land geduldet zu sein und gegen seinen Willen verführt wird, ist es auch. Bleibt Gretchens schwierige Frage nach der Religion, die die Dichterin nicht mehr für relevant hält. Die hat sie ins Gesellschaftliche übersetzt: Wie hältst du’s mit dem Konsens? Oder wie es Fatma Aydemir sagt: „Inwieweit sind Beziehungen einvernehmlich?“
Die Sprache ist ihr wichtig. Und natürlich kommt sie anders daher als in Goethes „Faust“ von 1808, der in Versen dichtete. Aydemir bedient sich herausgestellten Zitaten aus seinem Werk. Ansonsten wirkt sie jung, frisch und frech. Für das misogyne Männergespräch in „Auerbachs Keller“ habe sie gar Internetforen von sogenannten Pick-up-Artists besucht, „auf der sich Männer austauschen, wie sie Frauen gegen ihren Willen ins Bett kriegen“, erklärt Fatma Aydemir.
Irgendwann möchte sie sich einer griechischen Tragödie widmen
Warum Klassikerüberschreibungen, wie diese, so beliebt sind, hat sich die Schriftstellerin auch gefragt. „Vielleicht um einen leichteren Zugang zum Stück zu schaffen. Es gibt die These, dass Klassikerüberschreibungen ein Instrument sind, weil ein Teil der Zuschauer:innen das Original gar nicht kennt“, meint sie und ergänzt: Aus Autorinnenperspektive sei die Arbeit aufregend gewesen. Noch nie habe sie so schnell einen Text geschrieben. Und eine gute Übung sei es gewesen, auf Vergangenes zurückzublicken.
Sie wird bestimmt noch mal fürs Theater schreiben. Zu schön sei die Erfahrung, mit Regisseurin Selen Kara zu arbeiten, gewesen. „Es war ein Genuss im Team über etwas nachzudenken, statt im stillen Kämmerlein zu schreiben“, sagt sie. Einer griechischen Tragödie möchte sie sich irgendwann widmen. Doch zunächst ist ein neuer Roman an der Reihe.
Premiere von Fatma Aydemirs Stück und Talk-Reihe
Am Samstag, 9. September, hat die Uraufführung von Fatma Aydemirs „Doktormutter Faust“ im Grillo-Theater Premiere (ausverkauft). Die Titelfigur spielt Bettina Engelhardt. Weitere Termine: 10., 28. und 30. September.
Live zu erleben ist Fatma Aydemir als Gastgeberin einer Talk-Reihe. „Materien“ sind diese Künstlergespräche betitelt, die ab 13. Oktober, 21 Uhr, im Café Central des Grillo-Theaters stattfinden.
Die Schriftstellerin und Journalistin lädt Persönlichkeiten aus Literatur, Musik und Film nach Essen ein, um über ihre Arbeit zu sprechen, aber auch über die Arbeit anderer und deren Einflüsse auf die eigene Kunst. Zu ihrem Debüt als Gastgeberin empfängt Fatma Aydemir die Journalistin und Essayistin Alice Hasters und widmet sich ihrem Buch „Identitätskrise“.
Karten unter 0201 8122 200 oder online auf www.theater-essen.de
[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig & Werden + Borbeck & West | Alle Artikel aus Essen]