Essen. Die Polizei Essen war im vergangenen Jahr über 30.000 Stunden im türkisch-arabischen Milieu im Einsatz. Dennoch bleibt die Stadt Clan-Hochburg.

5211 Polizisten, die rund 31.200 Stunden im Essener Clan-Milieu im Einsatz waren, die 146 Shishabars, 42 Wettbüros sowie 622 „sonstige Orte“ kontrollierten, dabei 25 Waffen sicherstellten, 253 Strafanzeigen schrieben, 46 Verdächtige festnahmen, dazu 4398 Autofahrer kontrollierten, um 13 Karossen und noch mehr Führerscheine zumindest vorübergehend einzuziehen - all die Beamten im wöchentlichen Dauereinsatz und einige andere an der Politik der 1000 Nadelstiche beteiligten Behörden konnten an einem Befund auch im vergangenen Jahr nichts ändern: Essen ist und bleibt mit 736 Straftaten (599 in 2021) die unangefochtene Hochburg der Clankriminalität in NRW - gefolgt von Recklinghausen (551) und Gelsenkirchen (436). Doch jetzt hat die Stadt in aller Öffentlichkeit ein weiteres unrühmliches Etikett verpasst bekommen.

Essen lasse sich in diesem Berichtsjahr als Stadt mit den meisten Straftaten sowie Tatverdächtigen herausstellen und verzeichne den größten Anteil an den erfassten Straftaten, meint das Landeskriminalamt in seinem Lagebild Clankriminalität für 2022. Zumal sich in der Stadt etwa jeder Neunte aller im landesweiten Clan-Kontext erfassten Tatverdächtigen tummelt. Das sind 481 mutmaßlich kriminelle Mitglieder türkisch-arabischer Großfamilien mit einem zudem bemerkenswert überschaubaren Aktionsradius: Im Umkreis von fünf Kilometern, also in Wohnortnähe, wurden 63 Prozent aller Straftaten begangen, haben Ermittler durch einen Abgleich von Geo-Koordinaten der Wohnanschriften mit denen der Tatorte herausgefunden. Ein Phänomen, das in Essen mit den meisten mutmaßlichen Clan-Kriminellen zwangsläufig besonders heftig ins Statistik-Kontor schlägt.

„Wir dürfen mit unserer Arbeit nicht nachlassen“

Diese Erkenntnisse des Landeskriminalamtes scheinen sich allerdings in einem Rahmen zu bewegen, der bei der örtlichen Polizei zumindest noch keine Schnappatmung auslöst. Im Vergleich zum Vorjahr haben die dem LKA bekanntgewordenen Delikte doch landesweit sogar um über 20 Prozent zugelegt, heißt es relativierend. Da falle der Essener Anstieg von rund elf Prozent nicht so sehr ins Gewicht. Und die Zahl der in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) im Jahresvergleich 2022/21 für Essen erfassten Straftaten war nach Corona auch schon um rund 14 Prozent gestiegen.

Trotz dieser Einordnung ist für Polizeipräsident Andreas Stüve klar: „Das aktuelle Lagebild zur Clankriminalität zeigt, dass wir mit unserer Arbeit nicht nachlassen dürfen und wollen. Und auch dort, wo sich neue Herausforderungen stellen, werden wir aktiv. Wir haben hierzu die Sachrate ,Kriminalität durch Syrer’ eingerichtet und gehen nach wie vor entschlossen gegen bereits etablierte Clanstrukturen vor“ - mit dem erklärten Ziel und der Unterstützung kommunaler Ämter, des Zolls, der Finanzbehörden und der Staatsanwaltschaft Delikte von der Klein- bis hin zur Organisierten Kriminalität aufzudecken. Die häufig von Clans betriebene Rauschgiftkriminalität sei weiterhin von erheblicher Bedeutung, so das LKA.

Die negative Hitliste der Straftaten führt nach wie vor der „Clan 0“ an, der in Essen besonders aktiv sein soll. Auf das Konto seiner mutmaßlich kriminellen Mitglieder gehen allein 668 Straftaten, von denen 239 Rohheitsdelikte waren. Landesweit ist die Gewaltbereitschaft in dem Milieu massiv gestiegen, das LKA spricht bei Körperverletzungen und vergleichbaren Straftaten von einer Zunahme von rund 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Ein Massentumult nicht gekannten Ausmaßes

Für diese Entwicklung dürfte nicht zuletzt ein Massentumult eines bis dahin in Essen nicht gekannten Ausmaßes gesorgt haben, der nicht ohne Grund Eingang in das aktuelle Lagebild gefunden hat: „Am 25. Juni 2022 kam es im Stadtteil Altendorf in Essen zu einer Auseinandersetzung zwischen Angehörigen, zweier türkisch-arabischstämmiger Großfamilien unter Beteiligung von circa 200 Personen. Im Rahmen der Tumultlage wurden vier Personen, zum Teil auch mit einem Messer oder anderen stumpfen Gegenständen wie Schlagstöcken oder Stühlen verletzt. Davon erlitt eine Person erhebliche Stich- und Schnittverletzungen“, heißt es wörtlich in dem Bericht.

Drei weitere Leichtverletzte forderten weitere Auseinandersetzungen am nächsten Tag, später bescherten sich die Großfamilien gegenseitig Bedrohungen, Nötigungen und eine weitere gefährliche Körperverletzung, während die Beteiligten polizeiliche Maßnahmen aller Art schlicht ignorierten. Nach den Gewaltausbrüchen wurden elf Ermittlungsverfahren gegen 28 Beschuldigte eingeleitet, mehrere Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt, diverse Schuss- und Stichwaffen sowie Schlagwerkzeuge und ein Auto sichergestellt, so die nüchterne Bilanz der Behörden, in der die jüngste Straßenschlacht auf dem Salzmarkt in der Essener naturgemäß noch gar nicht auftaucht.