Essen. Der Baldeneysee in Essen sollte die Qualität des Trinkwassers heben. Dafür wurden Teile des Ruhrtals geopfert, aber auch Schönes geschaffen.
Vor 90 Jahren, irgendwann im Februar oder März 1933, schließen sich zum ersten Mal die mächtigen Walzen des Stauwehrs am Baldeneysee. Es dauert Wochen, bis der See vollläuft. Am 7. Juni werden dann die Turbinen und Generatoren des Wehrs offiziell in Betrieb genommen. Ohne Festrede, ohne rotes Band, ohne Blaskapelle. Einfach so.
Es war der Abschluss eines gigantischen Landschaftsumbaus, der einen der schönsten Abschnitte des Ruhrtals für immer veränderte und heute schwer vorstellbar wäre. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und teilweise bis in die 1970er Jahre war man nicht zimperlich bei der Zurichtung von Natur und Landschaft für die Zwecke der technischen Moderne, egal übrigens unter welcher Staatsform. Proteste gab es so gut wie nie, allenfalls stilles Unbehagen: „Die alten Essener Bürger empfanden zum Teil diesen Einbruch in das liebliche Ruhrtal als Gewalt“, schreiben die Autoren Dorothea Bessen und Horst Bühne in ihrem 2013 erschienenen Buch „Der Baldeneysee“.
Die Bauarbeiten für den Baldeneysee verwandeln das Ruhrtal in eine Mondlandschaft
Das war es ohne Zweifel. Die massiven Erdarbeiten, die aufgeworfenen und gemauerten Dämme, der Abriss von Häusern und die Fällung vieler Bäume verwandelten das Ruhrtal zeitweise in eine Mondlandschaft. Nur wer genau hinschaut, kann davon heute noch etwas erahnen, längst hat die Natur die Wunden gnädig geschlossen.
An der Nützlichkeit des Vorhabens gab es indes keinen Zweifel und daher auch kaum Diskussionen: Der See verringerte die Fließgeschwindigkeit der Ruhr, Schadstoffe konnten sich auf dem Grund absetzen, das Wasser wurde sauberer. Karl Imhoff, Direktor des in Essen ansässigen Ruhrverbands, war auf diese Idee gekommen. Denn die Wasserwerke konnten die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Wasser vor allem bei Trockenheit kaum noch sicherstellen. Imhoff setzte auf die Selbstreinigungskraft des Flusses.
Baldeneysee wird der größte Stausee an der Ruhr – und wohl auch der schönste
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Acht Stauseen wollte Imhoff deshalb entlang der Ruhr bauen lassen, am Ende werden es fünf: Auf Hengstey- und Harkortsee folgte der Baldeneysee, der Bau des Kemnader Sees in Bochum und des kleinen Kettwiger Sees schlossen sich an. Nicht zu verwechseln ist die Funktion dieser Seen mit den viel größeren Talsperren im Sauerland, die der Speicherung und Regulierung des Ruhrwassers dienen, aber weniger der Hebung der Wasserqualität.
Mit 7,6 Kilometern Länge, maximal 355 Metern Breite und einem Fassungsvermögen von 8,3 Millionen Kubikmetern wird der Baldeneysee der größte der fünf – und viele sagen, er sei auch der landschaftlich schönste. Seit Urzeiten schlängelt sich die Ruhr, gesäumt von Wäldern und Wiesen, in der hübschen Mittelgebirgslandschaft zwischen Kupferdreh und Werden dahin, rund um die Heisinger Halbinsel ändert der Fluss sogar radikal seine Richtung. Das kommt später auch der durchaus eleganten Form des Sees sehr zugute.
Überhaupt kann man den Planern des Sees ein gutes Gespür für die Proportionen der Landschaft attestieren, die zur Bauzeit alles andere als unberührt war, vielmehr intensiv genutzt wurde. Einzelne Bauernhöfe ließen sich abreißen, die Zeche Carl Funke und die Eisenbahnstrecke zwischen Werden und Kupferdreh aber waren sakrosankt und auch das Kruppsche Grundstückseigentum unterhalb der Villa Hügel blieb im Wesentlichen unangetastet.
Industrie und die Eisenbahn setzen der Freizeitnutzung zunächst Grenzen
All dies setzt auch den allgemein zugänglichen Freizeiteinrichtungen Grenzen, die heute wie die Hauptsache anmuten, damals aber nur ein willkommener Nebeneffekt waren. Zwar gehörten Vereinshäuser für die verschiedenen Wassersportarten und die Ausflugsschiffe der Weißen Flotte von Beginn an zum Konzept, die Ufer aber waren nur teilweise für Fußgänger zugänglich. Auf dem Heisinger Ufer etwa besetzte über weite Strecken die Eisenbahn die erste Reihe, was noch heute an Überbleibseln wie den weißen Steinen der Streckenkilometrierung erkennbar ist. Erst nach der Einstellung des Betriebs entstanden viele der heute wie selbstverständlich wirkenden Fuß- und Radwege.
Die Planung für den Baldeneysee hatten 1927 begonnen, als Freizeit zumal im Ruhrgebiet noch eher Privileg als Alltag war. Das Stauwehr soll zunächst am alten Adelssitz Schloss Baldeney entstehen, daher der Name Baldeneysee. Doch das Gefälle erweist sich als zu gering, die Stromerzeugung am Stauwehr wäre unwirtschaftlich gewesen. Deshalb wird das Wehr in Werden gebaut.
Qualität des Wassers war nach heutigen Maßstäben schlecht – geschwommen wurde trotzdem
Schon damals ist die Aussicht von der Korte-Klippe aufs Ruhrtal grandios. Doch der Fluss stinkt nach Ammoniak, Chlor und Salpetersäure, Würmern und Parasiten bietet er einen idealen Nährboden, was aber alles der Strandbad-Nutzung keinen Abbruch tat. Gern erzählte der langjährige Vorstandschef des Ruhrverbands und Olympia-Segler Harro Bode, wie er in den 1950er Jahren auf dem Baldeneysee Schwimmen lernte: „Wir fuhren mit dem Boot raus, mein Vater band mir zur Sicherheit ein Seil um die Hüften, und dann musste ich von Bord.“ Die Methode klingt brutal, war damals aber durchaus üblich.
Die Belastungen des Wassers sind Folge der rasenden Industrialisierung des Ruhrgebiets, die mit einer Bevölkerungsexplosion einhergeht. Bei der Fertigstellung des Sees 1933 zählt Essen (ohne Kettwig und Burgaltendorf) 654.461 Einwohner, auch andere Ruhrstädte waren immens gewachsen. Das Abwasser der Haushalte und der Industrie landete vielfach ungeklärt in der Ruhr.
Bis zu 2600 erwerbslose Männer sind gleichzeitig beschäftigt
Ab 1929 führt die Weltwirtschaftskrise zu großer Arbeitslosigkeit, bis zu 80.000 Essener sind betroffen. Kapitalmangel lässt den Bau des Baldeneysees stocken, schließlich gerät das Vorhaben zu einem gewaltigen Arbeitsbeschaffungsprojekt, bei dem teils sogar absichtlich auf Maschinen verzichtet wird, um möglichst viele Menschen buchstäblich an die Schippe zu kriegen. Eine Anleihe beim Völkerbund in Genf und Erwerbslosendarlehen beim preußischen Staat und beim Deutschen Reich finanzieren den Bau. Bedingung für die Darlehen ist die Beschäftigung möglichst vieler Erwerbsloser. Und so bereiten täglich bis zu 2600 meist junge Männer mit Hacken, Schaufel und Schubkarre dem See ein Bett.
Es sind Männer wie der 19-jährige Erich Muscheid, das Zeugnis der Höheren Handelsschule in der Tasche und seit Ostern 1931 auf Arbeitssuche. „Hauptsache Betätigung mit etwas selbst verdientem Geld“, schreibt der Steelenser in seinen Erinnerungen, die er in den 1980er Jahren dem Ernst-Schmidt-Archiv hinterließ. Die Mutter hatte nur eine kleine Rente. Und: „Vor Arbeit hatten wir keine Angst.“
Muscheid ist aufgewachsen in einem „schwarz-weiß-roten“ also national gesinnten Elternhaus, meldet sich zum „Freiwilligen Arbeitsdienst“, bezieht Quartier im ehemaligen Zuchthaus in Werden, der heutigen Folkwanghochschule. Auf die Männer wartet Knochenarbeit. Sie schuften sechs Tage pro Woche für täglich 1,80 Reichsmark und eine warme Mahlzeit.
Fertiggestellt wurde der See nach nur sieben Jahren Bauzeit
Rund 13 Millionen Reichsmark hat der Bau de Baldeneysees gekostet, seine Bedeutung für die Wasserqualität hat er verloren an moderne Klärwerke, die entlang der Ruhr entstanden sind. Das Wasser ist mittlerweile so sauber, dass selbst bei sehr eng ausgelegten Schadstoff-Grenzwerten problemlos an vielen Tagen geschwommen werden darf.
Längst steht die Freizeitnutzung im Vordergrund,
wie nicht zuletzt die immense Fotoproduktion belegt
. Immer noch aber schreibt der Ruhrverband dem See einen „Feinreinigungseffekt“ zu. Und weil das so ist, muss der Grund alle 50 Jahre mit schwerem Gerät ausgebaggert werden. Zum 100-Jährigen in zehn Jahren wäre es wieder soweit.
Heute erleben wir den Baldeneysee als Idylle, Besucher schwärmen von der „Perle an der Ruhr“, niemand will ihn missen. Und im August 2023 wird groß der Geburtstag gefeiert. Interessantes Gedankenspiel: Wäre der radikale Umbau einer Flusslandschaft in einen großen See heute an dieser Stelle noch möglich? Das kann man ausschließen. Umwelt- und Naturschützer würden auf die Barrikaden gehen.
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