Essen. Jürgen Bickert, Fleisch-Sommelier aus Essen-Schönebeck, verarbeitet „Biberratten“ zu Ragout und Würstchen. Wir haben Nutria probiert.
„Das Kopfkino musst du ausschalten“, rät mir Jürgen Bickert. Na klar, denn die Bilder, die sich vor meinem geistigen Auge abspielen, sehen nicht besonders appetitlich aus. Barthaare, ein graubraunes Fell, ein langer nackter Schwanz… Es könnte auch eine Bisamratte sein. Igittigitt. Die Kamera läuft. Also rufe ich im Stillen lieber „Cut“. Denn Jürgen Bickert serviert mir eine Portion Nutria. Am Baldeneysee und andernorts sind die Nager eine Plage. Beim Fleischermeister aus Schönebeck kommen sie auf den Teller.
Als unsere Redaktion vor einigen Monaten erstmals darüber berichtete, war es ein journalistisches Abfallprodukt. Das Gourmetmagazin „Der Feinschmecker“ hatte die Metzgerei an der Aktienstraße als eine der 500 besten Deutschlands genannt. Als der Lokalreporter vorbeischaute, um darüber zu berichten, fiel ihm das Nutria-Ragout auf, das der Fleischermeister in Dosen anbietet. Daneben stand ein Foto einer ausgewachsenen Nutria. Material fürs Kopfkino: Film ab.
Was folgte, nennt Jürgen Bickert einen Medien-Hype. Plötzlich war Nutria in aller Munde und der Fleischermeister ein Exot. Dabei standen die Nager früher einmal in vielen Haushalten auf dem wöchentlichen Speiseplan. Gezüchtet wurden sie einst ihrer Pelze wegen, ihr Fleisch wurde als Lebensmittel verwertet, in Ostdeutschland länger als im Westen.
Tierschützer reagierten nicht sehr freundlich
Am Telefon habe sich ein Herr aus dem Osten Deutschlands gemeldet, 82 Jahre alt, und davon geschwärmt, wie es in seiner Jugend auf Opas Bauernhof Nutria zu Mittag gab, erzählt Jürgen Bickert, während er eine Dose öffnet. Wenn er das noch einmal probieren dürfte...
Andere Reaktionen waren weniger freundlich, berichtet Bickert und meint Tierschützer oder jene, die sich dafür halten. Nutria ist in NRW laut Gesetz kein jagdbares Wild. Da es sich aber um eine invasive Art ohne natürliche Feinde handelt, dürfen die Nager per Ausnahmegenehmigung bejagt werden. Denn seit Pelze aus der Mode gekommen sind, haben sich entlaufene oder freigelassene Nutrias rasant vermehrt. Ein neugeborenes Weibchen ist nach fünf Monaten geschlechtsreif und kann mehrmals pro Jahr selbst Junge werfen. Auch der Naturschutzbund Nabu begrüßt, dass die Naturschutzbehörden nicht tatenlos zusehen, wie sich die Tiere immer mehr ausbreiten.
Durch ihre meterlangen Bauten zerstören Nutrias Uferbefestigungen
Jürgen Bickert ist selbst Jäger, auf die Pirsch geht er im Kreis Wesel. Weil die Nager dort Uferbefestigungen zerstören durch meterlange Bauten, die sie ins Erdreich graben, und Wasservögeln ihren Lebensraum nehmen, indem sie Uferröhrichte abfressen, hat der Lippeverband Jäger dazu aufgefordert, Nutrias zu jagen.
Bickert fängt die Nager in Lebendfallen, um sie dann zu töten und zu verwerten. „Ich töte keine Tiere und schmeiße sie einfach weg“, sagt er. Das wäre in seinen Augen unmoralisch. Zumal Nutriafleisch ein „tolles Lebensmittel“ sei. „Es hat fast gar kein Fett und ist cholesterinarm.“ Es zu verzehren ist also auch noch gesund. Aber was lässt sich daraus machen?
Als Fleischermeister und Fleischsommelier ist Jürgen Bickert experimentierfreudig. Nicht jeder Versuch glückt. Die Leberwurst sei in die Hose gegangen. Und die Bratwürstchen? Na ja, die könnten etwas würziger sein, findet er selbst.
Weil auch eine ausgewachsene Nutria so viel Fleisch nicht hergibt – maximal vier Kilo bei zehn Kilo Lebendgewicht schätzt Bickert –, bietet es sich besonders für Gulasch an. „Dazu viel Wurzelgemüse, Zwiebeln… – zum Abschluss einen Schuss Rotwein und das Ganze zweieinhalb Stunden garen lassen.“
Mir serviert Jürgen Bickert die mediterrane Variante: Nutria-Ragout in einer Tomaten-Paprika-Soße mit frischer Petersilie, dazu Baguettebrot zum Tunken. Wie es schmeckt? Das Fleisch ist weich und etwas faserig, so wie man es von Rindergulasch kennt. Vom Geschmack her aber erinnert es an Kaninchen. Nicht ohne Grund nennen sie Nutria in den Niederlanden auch „Wasserkaninchen“. Im Kopfkino spielen sich da gleich viel positivere Bilder ab.
Wer bei Jürgen Bickert Nutria kauft, ist in der Regel erst einmal neugierig
Jürgen Bickert vergleicht das Fleisch der Nutria mit dem einer französischen Poularde, was es sehr gut trifft. Davor ekeln muss man sich jedenfalls nicht. Zum Probieren gibt es noch ein Stück Nutria-Salami. Die Wurst ist zart, etwas pfefferig und ebenfalls schmackhaft.
Und wer kauft Nutria bei Bickert? „Da kommt keiner und sagt, ich hätte gerne mal zwei Kilo“, berichtet der Metzgermeister. „Es sind eher Leute, die neugierig sind.“ Und die ihre Gäste vielleicht auch überraschen wollen. So wie Bickert ein paar Freunden überraschte, als er ihnen eine Portion servierte. Die wussten erst gar nicht, was da auf dem Teller lag, erzählt er – und waren verblüfft, wie gut Nutria doch schmeckt.
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