Essen. Mehr Lebensqualität, weniger Angst: Die Uniklinik Essen will Schmerzpatienten möglichst früh helfen. Patienten können an einer Studie teilnehmen.

Chronischer Schmerz schränkt das Leben Betroffener enorm ein, raubt ihnen oft die Lebenslust. Eine Behandlung ist auch nach Jahren noch möglich, aber aufwendig. „Was in der Versorgungslandschaft fehlt, ist ein interdisziplinäres Angebot, das die Patienten möglichst früh bekommen“, sagt Dr. Daniel Müller, Schmerzmediziner und Oberarzt in der Neurologie der Uniklinik. Mit dem Forschungsprojekt Pain 2.0 macht das Schmerzzentrum der Uniklinik genau so ein Angebot.

[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig & Werden + Borbeck & West | Alle Artikel aus Essen]

Und während die Behandlung der chronischen Schmerzpatienten drei Wochen lang stationär erfolgt, läuft Pain 2.0 über zehn Wochen ambulant und berufsbegleitend. Ein wichtiges Argument für Lidija Chudzinski (58), die schon einmal eine langwierige Krankengeschichte durchlaufen hat. „Ich hatte vor fünf Jahren eine echte Odyssee, war bei Orthopäden, Osteopathen...“ Ursache ihres Schmerzes war eine Zyste zwischen vierten und fünftem Wirbel, die am Ende operativ entfernt wurde. „Aber bis dahin war es so schlimm, dass ich manchmal aus dem Fenster springen wollte.“

Angst vor der Rückkehr des Schmerzes

Nach der OP hielt sich die Architektin an die Ratschläge der Ärzte: Ging ins Fitnessstudio, um Muskeln aufzubauen, arbeitete am Stehpult und verbot sich ein halbes Jahr lang das Sitzen. „Die Wiedereingliederung funktionierte perfekt, und ich konnte auch wieder laufen, Sport machen.“ Fünf Jahre lang hatte sie ihr altes Leben zurück, dann meldete sich im November 2022 wieder der Schmerz. Das Kribbeln im Bein, das sie seither begleitet, sei nicht so schlimm wie vor fünf Jahren. „Aber der Nerv ist gereizt, und ich frage mich, wie weit ich noch Sport machen kann. Da ist die Angst, dass es jetzt noch einmal so schlimm werden könnte wie damals.“

Die Angst ist typisch für Schmerzpatienten und verschärft deren Beeinträchtigung. Rein orthopädische Ansätze von Spritze bis Physiotherapie helfen oft kaum, die Angst vor Bewegung zu nehmen, sagt Müller. „Denn körperliche und psychische Ursachen greifen da ineinander.“ Oft suche der Patient sogar neben Orthopäden und Physiotherapie auch psychologische Hilfe, doch das laufe oft wenig koordiniert. „Wir haben hier alles aus einem Guss, ein multidisziplinäres Team, das sich über jeden Patienten austauscht.“

Lebensqualität lässt sich deutlich verbessern

Man könne nicht versprechen, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Programms am Ende völlig schmerzfrei sind, „aber ein Erfolg ist auch, wenn sich ihre Lebensqualität deutlich verbessert. Der Schmerz strahlt schließlich auch auf Job und Familie aus, kann in eine Lebenskrise oder eine Depression führen“, sagt der Neurologe. Es könne helfen, wenn die Betroffenen eine gewisse Akzeptanz gegenüber dem Schmerz entwickeln – kein ergebenes Erdulden: Die Patienten sollten lernen, dass der Schmerz nicht diktiere, was sie machen.

„Ich lerne gerade, den Schmerz als Freund zu sehen und zu fragen: ,Wie komme ich mit Dir klar, so dass ich gehen, laufen, tanzen kann“, sagt Lidija Chudzinski. Sie hatte von der Studie in der Zeitung gelesen, sich bei Pain 2.0 gemeldet und kommt nun seit sechs Wochen für drei Stunden wöchentlich ins Schmerzzentrum. Da geht es etwa um Atem- und Entlastungsübungen ebenso wie um Strategien gegen die Sorgen, die den Schmerz begleiten.

Angebote für Schmerz- und Rückenschmerz-Patienten

Pain 2.0 ist ein Forschungsprojekt mit einem Angebot für Menschen, die unter wiederkehrenden Schmerzen von mehr als sechs Wochen oder häufig wiederkehrenden Schmerzen leiden. Die Betroffenen müssen mindestens 18 Jahre alt sein, sich in ihrer Lebensführung durch die Schmerzen eingeschränkt fühlen bzw. erste Anzeichen auf Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung haben, etwa negative Stimmung oder ausgeprägte Sorgen vor der Zukunft. Das berufsbegleitende, ambulante Programm dauert zehn Wochen mit drei bis vier Wochenstunden und multimodaler Therapie.

Effect Back ist ein Forschungsprojekt für Patienten ab 18 Jahren mit chronischen Rückenschmerzen, die seit mindestens sechs Monaten und an der Mehrzahl der Tage auftreten. Ziel des Projekts ist es, das Behandlungsangebot für Patienten mit chronischem Rückenschmerz zu verbessern und erweitern. Das Programm umfasst zehn Sitzungen kognitive Verhaltenstherapie oder Expositionstherapie, kontinuierliche Beobachtung des Behandlungsverlaufs und zwei Auffrischungssitzungen nach Therapieende. Der Therapieerfolg wird nach sechs Monaten gemessen.

Kontakt für Pain 2.0: Mail an . Für Effect Back: Oder für beide Programme telefonisch: 0201-723 -2364

Daneben trainiert die 58-Jährige täglich, macht Bauch-Rücken-Kurse, Krafttraining. Sie nutzt einen Steharbeitsplatz und baut kleine Elemente in den Alltag ein: „Jeden Morgen und Abend putze ich mir auf einem Bein stehend die Zähne, das ist gut für die Tiefenmuskulatur.“ Je größer der Leidensdruck, je mehr sei auch Disziplin gefordert.

In vielen Fällen wird zu schnell operiert

Viele Menschen mit heftigen Schmerzen gewöhnten sich an, Bewegungen zu vermeiden, sagt Daniel Müller. Andere powerten ohne Rücksicht auf den Schmerz weiter – bis gar nichts mehr gehe. Die Schmerzmediziner der Uniklinik wollen verhindern, dass es soweit kommt. „Wir glauben, dass Patienten früher besser geholfen werden kann.“ Pain 2.0 richte sich an Betroffene, die schon länger leiden, deren Schmerz aber noch nicht chronisch ist. „Es geht uns darum, dass er sich erst gar nicht verfestigt.“

Dazu müsse man verstehen, dass der Schmerz neben dem ursprünglichen Krankheitsbild „ein eigenes Problem darstellt“. Regelmäßig sei er nicht völlig mit dem Bildbefund in Deckung zu bringen. Umgekehrt gebe es beim MRT immer wieder Zufallsbefunde von Bandscheibenvorfällen, die beim Patienten keine Beschwerden verursachen. In vielen Fällen werde operiert, obwohl das nicht nötig sei oder es andere Wege gebe.

Kopfkino in den Griff bekommen

Leider gebe es für den frühen Behandlungsansatz bisher keine Vergütung durch die Krankenkassen. „Dabei könnten wir viel Leid verhindern.“ Pain 2.0 soll das untermauern. Im Schmerzzentrum der Uniklinik arbeiten Neurologen wie Müller, Anästhesisten und Neurochirurgen, die alle eine Weiterbildung zum Schmerztherapeuten gemacht haben. Dazu kommen spezialisierte Physiotherapeuten und Psychologen. „Jede Disziplin sieht jeden Patienten und alle besprechen sich.“

Ihr habe dieser multimodale Ansatz sehr geholfen, sagt Lidija Chudzinski. Dank der psychologischen Hilfestellungen, habe sie ihr Kopfkino einhegen können, indem sich immer wieder der Leidens-Film von vor fünf Jahren abspielte.

Nun scheint wieder Licht ins Dunkel

Andere Patienten wehrten psychologische Hilfe ab, weiß Müller: „Dabei heißt das nicht, dass der Schmerz eingebildet ist.“ Wieder andere erwarteten, dass allein der Arzt den Schmerz beseitige, etwa durch eine Spritze. Doch ohne die Bereitschaft, selbst mitzuhelfen gehe es nicht. „Auch wer seit Jahren Schmerzen hat, kann gute Erfolge erzielen, wenn die Motivation da ist. Wir geben da Hilfe zur Selbsthilfe.“

Für Lidija Chudzinski funktioniert das Konzept, so spürt sie schnell, wenn sie mal zu viel sitzt und für Ausgleich sorgen muss. „Jetzt habe ich das Handwerkszeug, um mit dem Schmerz umzugehen .“ Sie mache Sport, tanze und höre gut in sich hinein, um nichts zu übertreiben. Völlig schmerzfrei sei sie nicht. „Aber nun scheint Licht ins Dunkel.“ Das Pain 2.0-Team würde gern mehr Schmerzpatienten den Weg erleuchten.