Essen. Nicht zu niedrig hängen und nicht zu hoch: Oberbürgermeister Thomas Kufen versucht nach den bedrohlichen Aufmärschen die Balance zu wahren.
Die martialischen Aufmärsche rivalisierender syrischer und libanesischer Clans in der Essener Innenstadt am Wochenende rufen auch die Politik auf den Plan. Oberbürgermeister Thomas Kufen nimmt die Sache „sehr ernst“, wie er im Interview beteuert:
Herr Oberbürgermeister, nach diesem Wochenende hat der Essener Arbeitskreis „Unsere schöne Innenstadt“ bestimmt erst mal ein paar Tage frei, oder?
Thomas Kufen: (lacht gequält) Tja, das kann man so sagen. Zumindest gab es keine Überschriften, die man sich hier wünscht – nicht für die Essener Innenstadt und auch grundsätzlich.
Im Internet tagen bereits die Schnellgerichte, und alle wissen natürlich Bescheid, meinen sie jedenfalls. Sie haben sich am Montagmittag von der Polizei ins Bild setzen lassen. Was ist wirklich bekannt?
Wir waren schon am Wochenende im engen Austausch, auch ich persönlich. Da gibt es, lassen Sie mich das bei dieser Gelegenheit sagen, auch mit dem neuen Polizeipräsidenten Andreas Stüve ein sehr vertrauensvolles Miteinander. Was wir wissen ist, dass es in Castrop-Rauxel am Donnerstag eine größere Schlägerei gab – dort trifft auch der Begriff „Schlägerei“ zu...
...denn es gab Verletzte...
...und dann folgte in der Nacht von Freitag auf Samstag in Essen eine Ansammlung von mehreren Menschen, sowohl aus der libanesischen als auch aus der syrischen Community in einer doch sehr emotional aufgeheizten Stimmung.
Es waren Hunderte.
Aber es gab eben keine Schlägerei, weil die Polizei sehr schnell und sehr massiv vor Ort war. Sie hat die Gruppen getrennt und hat von über 100 Personen die Personalien festgestellt. Die Menschenmenge löste sich dann sehr schnell auf. Drei Verletzte, teils durch Reizgas, keine nennenswerten Sachbeschädigungen – das ist die Bilanz wie wir sie kennen.
„Ich spiele da überhaupt nichts runter, denn das macht was mit den Menschen“
Alarmstimmung, dennoch.
Ja, für den Rest des Wochenendes waren wir doch sehr wachsam, ob es weitere Zusammenrottungen im Stadtgebiet gibt. Aber es blieb weitestgehend ruhig – abgesehen von den Aufgeregtheiten, ausgelöst insbesondere durch soziale Medien und die Berichterstattung darüber. Die Polizei hat sehr schnell gut reagiert, dafür danke ich, und wir haben als Stadt ebenfalls unseren Beitrag geleistet.
Mancher wird jetzt sagen: Ja, nee, klar, der Oberbürgermeister kocht die Sache runter, muss er vielleicht auch, um nicht noch mehr Unsicherheit zu schüren.
Das täuscht. Ich nehme das sehr ernst, weil ich um die Wirkung weiß: Ich habe Zuschriften bekommen nach dem Motto: Kann ich mich noch sicher bewegen? Was bedeutet das für bestimmte Stadtquartiere? Wie reagieren Sie? Ich spiele da überhaupt nichts runter, denn das macht was mit den Menschen in dieser Stadt, die sich dann einfach nicht sicher fühlen. Die fürchten, auf dem Weg zum Theater oder wohin auch sonst irgendwie dazwischen zu geraten.
Die Kommentare im Netz sind entsprechend: „Wir laufen Gefahr, unsere City zu verlieren“, heißt es etwa. Übertrieben?
Ich war an dem Abend sogar in der City, wir waren mit Freunden auf der Gastronomie-Meile verabredet und gehörten sogar zu den letzten Gästen. Wir haben von dem, was da an der Turmstraße passierte, nichts mitbekommen.
„Schlagzeilen, die wir nicht brauchen, wenn wir Vertrauen zurückgewinnen wollen“
Und doch bricht sich hie und da ein Gefühl Bahn: Innenstadt? Da kannste nicht mehr hingehen. Da laufen Dir im Zweifel marodierende Gruppen junger Männer entgegen, und auch ohne eine Fehde mit denen zu haben, wird einem arg unwohl. Was wollen Sie tun? Bei einer ganzen Serie abendlicher Treffen wurde jüngst überlegt, wie man die Innenstadt wieder attraktiver gestalten kann…
...und dann dieser Schlag ins Kontor, schon klar. Das sind genau die Schlagzeilen, die wir nicht brauchen, wenn wir Vertrauen in die Innenstadt zurückgewinnen wollen. Dabei haben wir den kommunalen Ordnungsdienst von 12 auf 70 Personen ausgeweitet, wir haben einen privaten Sicherheitsdienst, die Polizeiwache sitzt mitten in der City – ich weiß gar nicht, ob noch mehr Präsenz am Ende das subjektive Sicherheitsgefühl am Ende verbessert, oder ob da nicht der Eindruck entsteht: Wenn die hier so massiv auftreten, wird das schon einen Grund haben. Es ist ein totaler Balanceakt.
Wissen Sie, mit wem Sie es da Freitagabend zu tun hatten?
Wir haben aus unserer Erfahrung im Kampf gegen die Clan-Kriminalität ein sehr gutes Lagebild, was die Libanesen angeht. Was in der syrischen Community vorgeht, wissen wir dagegen noch nicht so genau. Wir haben vor zwei Jahren als erste Stadt mal eine Studie in Auftrag gegeben...
Ist bekannt. Da war aber von Tumulten und Kloppereien keine Rede.
Stimmt, aber wir haben uns anhand von 1000 Interviews wenigstens mal ein erstes Bild machen können. Aktuell haben wir immerhin 15.500 Syrerinnen und Syrer in der Stadt, und die sind bis zu diesem Wochenende auch eher durch viele kleine Integrations-Geschichten aufgefallen. Dennoch schauen wir genau hin. Wir lassen das nicht auf uns sitzen.
„Wenn die Scheinwerfer nicht da sind, bedeutet das nicht, dass wir nicht tätig sind“
Und „wir dulden solche Tumultszenen in unserer Stadt nicht“, haben Sie bei Facebook formuliert. Aber Tumulte sind ja nichts, was man duldet oder nicht – die geschehen einfach, in Zeiten von Social Media schneller, als die Polizei erlaubt. Was also tun?
Wir machen die klare Ansage: Wenn es zu solchen Zusammenrottungen kommt, dann kann das auch sehr schnell strafrechtliche Relevanz haben, bis hin zum Landfriedensbruch. Das ist kein Betriebsausflug.
Viele trauen Ihnen zu, die Sache in den Griff zu bekommen, andere kommentieren pessimistischer: Thomas Kufen, schreibt einer auf Facebook, „ist in einer ausweglosen Lage. Für Lippenbekenntnisse reicht es, für mehr leider nicht“.
Wir bleiben bei unserem Kurs. Es geht eben nicht nur um PR-Aktionen. Wenn die Scheinwerfer der Medien nicht da sind, bedeutet das ja nicht, dass wir nicht tätig sind. Wir sind mit der Einsatzhundertschaft jede Woche draußen und kontrollieren, jede Woche! Und wir lassen darin auch nicht nach. Deswegen haben wir auch ein so gutes Bild über die libanesische Community. Und wir werden das bei der syrischen wiederholen.
Sie kennen Ihre Pappenheimer...
...und die wir nicht kennen, werden wir noch kennenlernen. Wobei ich sagen muss: Es haben sich sehr viele Libanesen wie Syrer bei mir gemeldet, die einfach todtraurig darüber sind, das alles wieder in einen Topf geschmissen wird. Dass ihre eigene Lebens- und ihre Integrationsleistung nicht anerkannt wird und deren Kinder jetzt angegangen werden von Nachbarn oder Schulkameraden. Das ist die andere Seite.
„Ich habe den Eindruck, dass wir in den vergangenen Jahren auch Zähne gezeigt haben“
Auf diesem Feuerchen kochen bestimmte Gruppen ihr Süppchen.
Das ist so. Aus Tumult wurde da plötzlich eine Massenschlägerei, die es nicht war. Ich bin sehr für klare Sprache, dafür anzuerkennen, was ist. Aber jetzt noch mal rhetorisch eins draufzusetzen, weil sich das dann besser macht – das hilft weder dem Thema noch hat man einen Beitrag zur Lösung geleistet.
Tatsache ist: Nicht nur der Tumult, auch die Debatte darüber findet in aufgeheizter Stimmung statt. Teilen Sie den Eindruck, dass die Zahl derer wächst, deren Geduld einfach erschöpft ist? Die sich von der Politik nicht wirklich verstanden wähnen, weil sie für eine nüchterne Analyse zu empört sind?
Natürlich gibt’s da Leute, die ganz schnell ihre Lösung parat haben. Die sind aber mit einem Rechtsstaat nicht in Einklang zu bringen. Und rechtsstaatliche Verfahren dauern eben oft auch unendlich lange. Ich kann den gelegentlichen Frust der Menschen verstehen, die glauben, wir seien nicht wehrhaft genug. Ich habe dennoch den Eindruck, dass wir in den vergangenen sieben Jahren auch Zähne gezeigt haben und die Politik der 1000 Nadelstiche Wirkung zeigt.
Die scheinen dennoch nicht wirklich weh getan zu haben.
Wir haben immer gesagt: Die schnellen Erfolge gibt’s nicht, diese archaischen Clan-Strukturen haben sich so tief festgesetzt, da braucht man einen langen Atem. Und auf der anderen Seite gilt: Es gibt immer auch die, die sich längst davon losgesagt haben, die sich engagieren. Es sind nicht alle Libanesen so. Es sind nicht alle Syrer so. Sondern mit Sicherheit ist es der kleinere Teil. Da gibt’s auch Mitläufer, wie immer. Ich weiß, es ist nicht populär, für ein differenziertes Bild zu werben. Aber für den Zusammenhalt unserer Stadt ist mir wichtig, dass wir da so differenziert draufschauen. Und nach dem Wochenende ist vor dem Wochenende, wir lassen jetzt nicht nach.
Das klingt aber auch ein bisschen nach: Wenn der Sommer heiß und der Testosteron-Spiegel hoch bleibt, steht uns im Zweifel irgendwann Ähnliches wieder bevor.
Bei uns in Essen, auch in anderen Städten – ja, das kann sein. Angeheizt durch Aufrufe in Social Media, die wie Brandbeschleuniger in einer eh schon angespannten Stimmung wirken. In einer sehr verstörenden Gewaltsprache und auf Arabisch, was wir uns erst erarbeiten müssen. Jetzt kann man sagen: Okay, das ist vielleicht auch ein bisschen 1001 Nacht, es muss übertrieben sein, damit es seine Empfänger findet. Aber es gibt auch viele, die das 1:1 ernst nehmen, und auch ich bin dafür, das 1:1 zu nehmen. Relativieren können wir hinterher immer noch.