Essen. . Es geht nicht um „Nazis“, wie uns ein paar Idioten weismachen wollen. Es geht um Entsolidarisierung, meint NRZ-Redakteur Wolfgang Kintscher.

Wer die „Essener Tafel“ und damit auch ihre vielen ehrenamtlichen Helfer als Nazis beschimpft und Autos besprüht, der muss ein ziemlicher Hohlkopf sein – und dazu erschreckend ahnungslos, schon was Basis-Kenntnisse über den Nationalsozialismus angeht. Überraschend kommt die idiotische Aktion nicht: Sie war die fast schon zwangsläufige Eskalation eines Streits, den man – in Kenntnis der großen Empörungsbereitschaft allerorten – mit ein bisschen Geschick, Kompromissbereitschaft und guten Willen vermutlich friedlich hätte aus der Welt schaffen können, würde es nicht an all diesen Tugenden mangeln. Wenn wir seit Brecht wissen, dass erst das Fressen und dann die Moral kommt – wo sollte man das besser beobachten können als am untersten Rand der Gesellschaft? Dort ist eine dramatische Entsolidarisierung im Gange, in der es okay ist, die Armen nach Herkunft zu unterscheiden, damit die Einheimischen sich wieder besser fühlen, während ein hemdsärmeliger Tafel-Chef vom „Nehmer-Gen“ bestimmter Nationalitäten raunt: Wer so redet, legt – wohl unbewusst – die Lunte an eine Gesellschaft, die mit der Integration fremder Kulturen schon genug Arbeit hat. Und mitten in dieser Gerechtigkeitsdebatte sind auch in begüterten Schichten immer mehr Menschen bereit, beim „Wir“-Gefühl Zugewanderte auszuschließen. Das ist der wahre Kern der Debatte, die heute an der „Essener Tafel“ geführt wird und morgen an anderer Stelle: „Wir“ gegen „die“.