Essen. Oberbürgermeister Thomas Kufen im Interview: über seine Sorge, dass man die Stadt in Sachen Integration sitzen lässt, und das „böse O-Wort“.

  • Kufen mag keine Untergrenze für die von ihm erhofften finanziellen Hilfen nennen
  • „Mein Job ist es aufzupassen, dass aus der Flüchtlingskrise nicht eine Integrationskrise wird“
  • Trotz der SPD-Verluste: Auch seine Partei dürfe nicht ganze Stadtteile der AfD überlassen

Herr Oberbürgermeister, „großes Herz und große Klappe – das gehört bei uns zusammen“. So haben Sie es mit Blick auf die Flüchtlinge vor zwei Jahren formuliert. Kann es sein, dass zumindest das Herz mittlerweile spürbar geschrumpft ist?

Nein, das glaube ich nicht. Wir können sehr stolz darauf sein, was die Menschen in dieser Stadt in der Flüchtlingskrise geleistet haben: die Privatleute, die Initiativen, die Wohlfahrtsverbände, die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Wir sind bisher all unseren Verpflichtungen nachgekommen, aber ich sage auch: An diesem Krisenjahr knabbern wir heute noch.

Im Sinne von: Wir korrigieren, was wir an Fehlern gemacht haben? Oder wir arbeiten auf, wozu wir in der Krise nicht gekommen sind?

Eigentlich beides

Schon damals haben Sie vorausgesagt, es könnte irgendwann ein Kräftemessen geben zwischen den Flüchtlingen und den sozial Schwachen im Lande. Ist das, was wir in den letzten Wochen und Monaten erleben und als Höhepunkt am Wahlergebnis ablesen können, Ausdruck dessen?

Ja, das sehe ich so. Die AfD zu wählen, ist für viele ein Ventil gewesen, auch in Essen. Aber auf der anderen Seite stehen auch die Stimmen für die Linke. Wenn an beiden politischen Rändern die Zustimmung zunimmt, kann das für die Parteien in der Mitte nicht Anlass sein, einfach so weiterzumachen wie bisher.

„Dieser Eindruck, die Flüchtlingskrise sei abgehakt“

Und dann muss man das Wort „Obergrenze“ in den Mund nehmen, das man bislang gezielt vermieden hat?

Ich habe immer deutlich gemacht, dass es eine Grenze der Aufnahmefähigkeit auch in dieser Stadt gibt, die wir besser nicht austesten sollten. Ich kann natürlich nicht für den Bayerischen Wald sprechen und ehrlicherweise kann ich als Essener OB auch nicht gleich noch einen Gesetzentwurf mitliefern, das ist nicht mein Job.

Damals haben Sie wörtlich gesagt: „Ich bin auch keiner, der Obergrenzen definiert.“ 22 Monate später stellen wir fest: Sind Sie doch.

Na ja gut. Wir haben 2015 und 2016 jeweils über 4000 Menschen aufgenommen. Selbst die Bundeskanzlerin sagt, das darf sich nicht wiederholen. Dann erwarte ich aber auch von der Bundes- wie von der Landesregierung, dass sie entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Ich habe die Analyse der Bundestagswahl abgewartet und festgestellt: Regierungskonstellationen ändern sich, und man hat trotzdem den Eindruck, als würde dort die Flüchtlingskrise schon abgehakt. Sie ist es für uns aber mitnichten.

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Liegt darin die Ursache dafür, dass Sie inzwischen einen schärferen Ton anschlagen als einst im Interview?

Damals war ich gerade zwei Monate im Amt. Ich glaube, die Bürger hätten den Falschen gewählt, wenn der nach so kurzer Zeit als erstes sagt, was alles nicht funktioniert.

„Dass am Ende trotzdem alle bleiben, ist keine Lösung“

Dennoch: Ihre Standortbestimmung wirkte damals gelassener. Und mit Blick auf Ihre Job-Vergangenheit als Integrationsbeauftragter des Landes NRW auch motivierender.

Mag sein, aber ich muss auch vor Überforderung schützen. Vielleicht bin ich, was diese Frage angeht, etwas ernster geworden. Die Mitarbeiter im Job-Center, in der Ausländerbehörde, im Jugend- oder Sozialamt leiden heute noch unter einer immensen Belastung – ablesbar an den Schlangen vor der Tür. Mein Job ist es jetzt aufzupassen, dass aus der Flüchtlingskrise nicht am Ende noch eine Integrationskrise wird, die wir in Essen auszubaden hätten.

Weil nicht nur Flüchtlinge kommen, die der Stadt zugewiesen wurden.

So ist es. Wir haben frühzeitig auf eine Wohnsitzauflage gedrängt, die viel zu spät kam...

...und nun, da es sie gibt...

...keine Wirkung zeigt. Wir erleben nun den Familiennachzug, und der wird wieder die großen Städte, auch Essen treffen. Vor zwei Jahren zählten wir ungefähr 1500 Menschen mit einem syrischen Pass in Essen, heute sind es über 10 000. Das ist eine Situation, die ich nicht unkommentiert lassen darf. Beim Asyl sinken die Anerkennungsquoten im Übrigen spürbar, das heißt: Es kommen viele Menschen zu uns, die als Flüchtlinge nicht anerkannt werden. Auch für sie muss eine Lösung gefunden werden. Und diese Lösung kann nicht heißen, dass am Ende trotzdem alle bleiben.

„Keiner wirft mir vor, ich hätte übertrieben“

Klingt, als hätten Sie den provozierenden Begriff der „Obergrenze“ nicht per Zufall gewählt.

Sie können davon ausgehen, dass ich nichts „zufällig“ sage. Die Wirkung meiner Worte ist mir jeden Tag bewusst...

Selbst wenn man damit „alte Verbündete“ vor den Kopf stößt.

Das muss ich ertragen. Wenn ich am Ende nur einen bestimmten Begriff nicht sagen soll, die Analyse des Problems aber geteilt wird, ist das nicht mein Problem. Nun ist das böse O-Wort gefallen, aber Sie sind ja Gott sei Dank Journalist und kein Psychiater. Es bringt doch nichts, wenn wir Begriffe, die in der Tat emotional aufgeladen sind, nicht weiterdiskutieren. Da müssen sich die Grünen oder etwa „Pro Asyl“ fragen, ob sie sich in der Debatte nicht selber beschneiden. Quer durchs Ruhrgebiet wirft mir jedenfalls bislang keiner vor, ich hätte übertrieben.

Und der Vorwurf, sie betrieben ungewollt das Geschäft der AfD?

Das kann ich so nicht teilen.

Kanzlerin Merkel hat mal gesagt: Was in Aleppo oder Mossul passiert, hat auch Auswirkungen für Essen und Stuttgart. Man hatte den Eindruck: Sie hat sich da an ein Gespräch mit Thomas Kufen erinnert.

Ich kann das noch ergänzen: Wenn das, was in Aleppo oder Mossul Auswirkungen auf die Bundespolitik hat, dann erwarte ich auch, dass das, was in Essen oder in Gelsenkirchen passiert, a u c h Auswirkungen auf die Bundespolitik hat. Wir können nicht nur immer mehr Wackersteine in den Rucksack gepackt kriegen.

„Ich brauche keine Streicheleinheiten“

Reden wir also am Ende eigentlich nur über Geld?

Sagen wir es so: Ich brauche keine Streicheleinheiten und keine Fleißkärtchen. Wir machen hier unsere Arbeit, und die machen wir sehr gut. Wir sind aber eine Stadt, die tiefrot in den Schulden steht...

Fast 3,7 Milliarden Euro allein im Kern-Haushalt der Stadt.

...in der man ablesen kann, welches ein öffentliches Gebäude ist, weil wir dort in der Regel seit vielen Jahren nichts getan haben. Wir wollen hier eine lebenswerte Stadt erhalten, und deshalb müssen wir massiv investieren. Und wer sagt: Es ist ja in der Vergangenheit niemandem etwas weggenommen worden durch diese Flüchtlingskrise, der mag auf den ersten Blick Recht haben. Auf den zweiten Blick muss ich aber betonen: Wir haben auch 60 Millionen Euro aus dem städtischen Etat mehr ausgegeben, das heißt, wir haben mehr Schulden aufgenommen. Daran werden wir noch lange abzahlen.

Sagen Sie doch mal, was Sie an finanzieller Hilfe erwarten. Wenn’s beliebt: eine Untergrenze.

Ich führe doch keine Verhandlungen mit Land oder Bund über die Zeitung.

Immerhin ist in Essen der Haushalts-Ausgleich dank NRW-Stärkungspakt inzwischen geschafft.

Ja, aber es bleibt die Frage: Wie gehen wir mit den Altschulden um? Die neue Landesregierung stellt sich dieser Frage, ich habe das ja beim Koalitionsvertrag mitverhandelt. Und es ist beileibe nicht nur ein Essener Problem.

„Die SPD-Kritik an der Stadtentwicklung teile ich nicht“

Aber es drängt nirgends so sehr wie hier, angesichts der gewaltigen Summe von fast 2,5 Milliarden Euro allein beim städtischen „Dispo“.

Es wird, so viel ist klar, keiner kommen, der uns einfach entschuldet. Mir ist wichtig, dass wir Planungssicherheit haben. Wenn uns das Zinsänderungs-Risiko genommen würde und wir gleichzeitig einen Plan schmieden, wie wir die Altschulden perspektivisch abbauen, dann ist das genau die Verlässlichkeit, die ich erwarte.

Denn es gibt ja noch andere Probleme: die hohe Langzeitarbeitslosigkeit etwa...

Die ich als noch viel größer und drückender als das Flüchtlingsproblem empfinde. Das muss in Berlin und Düsseldorf auf die Agenda.

Und hier die Stadtentwicklung? Mancher in der SPD lässt kein gutes Haar an den letzten 30 Jahren.

Die Kritik teile ich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil: Gerade in den letzten Jahren haben wir – ob am Universitätsviertel oder am Niederfeldsee in Altendorf – gezeigt, dass wir Stadtentwicklung können. Ich empfehle Karlheinz Endruschat, der das aufgeworfen hat, mal ein Gespräch unter Parteifreunden mit unserem Planungsdezernenten Hans-Jürgen Best.

„Für mich gibt es keinen Grund zur Schadenfreude“

In Altendorf, aber auch im Uni-Viertel hat der Allbau viel Geld investiert. Die Linken sagen: Da wäre mehr möglich, müsste der Allbau nicht so viel vom Gewinn abgeben.

Ich erkenne nicht zwingend einen Widerspruch zwischen Dividende und Stadtentwicklung. Bisher haben wir das gut hinbekommen. Dass die Linke groß ist im Geldausgeben, ist bekannt. Aber ich muss auch sehen, dass wir unsere Verpflichtung, den Haushalt auszugleichen, einhalten. Und da ist die Allbau-Dividende fest eingeplant.

Der Vorstoß der SPD galt auch der bedenklichen Entwicklung in einigen Stadtteilen, in denen die AfD satte Ergebnisse einfuhr.

Schon klar. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung mit der AfD, und ich bin nicht bereit, ihr bestimmte Stadtteile einfach zu überlassen.

Wobei die Wahlergebnisse ja zumindest in hiesigen Breiten vor allem der SPD zu schaffen machen.

Was zeigt, dass die Sozialdemokraten sehr an Bindungskraft verloren haben, aber das sollte vor allem die SPD beschäftigen. Für mich gibt es da keinen Grund zur Schadenfreude, denn ich muss den Laden hier zusammenhalten. Der Umgang mit der AfD – das sieht man in Parlamenten, in denen sie sitzt – verändert unbestritten das politische Geschäft.

„Ich bin zufrieden mit der Debatte, wie sie gelaufen ist“

Auch Ihres?

Die Partei spielt ja bei den Debatten im Stadtrat bislang keine Rolle. Für den Rat sind drei Leute gewählt worden, und bis zur Konstituierung waren die alle nicht mehr bei der AfD.

Was sich mit Ex-SPD-Mann Guido Reil geändert hat.

Mein Eindruck ist, dessen Interessen liegen außerhalb der Kommunalpolitik. Aber natürlich wird die AfD mit ihrem Bundestagsabgeordneten versuchen, aktiv zu sein. Ich habe das auch an meine Partei gerichtet: Die Leute in Vogelheim, in Karnap oder Stoppenberg haben ja nicht deshalb die AfD gewählt, weil die CDU ihnen „zu links“ geworden ist, sondern weil sie offensichtlich den Eindruck haben, dass sie mit ihren Sorgen, Nöten und Problemen nicht ernst genommen werden. Und daran müssen wir arbeiten.

Und die Obergrenze zu fordern, war dazu der erste Schritt?

Ach, ich bin zufrieden mit der Debatte, wie sie gelaufen ist.