Emmerich. . Bei der Volkshochschule in Wesel erwarb die ehemalige Sonderschülerin Gabriele Ketelaer mit 53 Jahren die Fachoberschulreife. Viel verdankt sie der Unterstützung durch ihren Lehrer

Ob sich heute ein Kind so sehr über sein Zeugnis freut wie Gabriele Ketelaer? Voller Stolz zeigt die 53-jährige Emmericherin ihr frisch erworbenes Zeugnis der Fachoberschulreife: „Seit heute bin ein neuer Mensch.“

Dabei hatte das Leben der gebürtigen Moerserin wenig erfolgreich begonnen. Mit neun Geschwistern in einer Bergmannsfamilie aufgewachsen blieb den Eltern kaum Zeit, sich um die schulischen Belange ihrer Kinder zu kümmern. Gabi war zweimal in der Grundschule sitzengeblieben und wurde in der dritten Klasse an die Sonderschule (damals gab es den Begriff Förderschule noch nicht) verwiesen. „Juchhu!“, verkündete sie ihren Freunden auf der Straße, „nach den Ferien komme ich auch auf eure Schule“. Dorthin gingen viele Nachbarskinder. „Ich wusste aber nicht, dass damit ein Makel verbunden ist.“ Sie strengte sich nicht an, war aufmüpfig, nach der 8. Klasse endete die Schullaufbahn. „Mit 15 Jahren verkaufte ich auf dem Wochenmarkt Bonbons.“ Mit 17 verließ sie ihr Elternhaus, machte schmerzhafte Erfahrungen und erlebte, dass ihr ohne vernünftigen Schulabschluss kaum ein Weg offen stand. Bis sie in Emmerich ihren Mann Karl Heinz Ketelaer kennen lernte.

Er selbst hatte das Gymnasium besucht und arbeitet in einer Steuerberaterkanzlei. „Man sieht den Menschen als Ganzes, wenn man ihn kennenlernt. Ich wusste gleich, dass meine Frau nicht dumm ist. Es waren widrige Umstände, die in ihrer Jugend schief liefen.“ Gabriele Ketelaer hat sich intensiv um ihre Töchter gekümmert. „Mir war unheimlich wichtig, dass sie einen vernünftigen Schulabschluss haben.“ Sie scheute sich nicht, den Lehrern zu sagen, dass sie bei den Hausaufgaben wegen mangelnder Schulbildung keine große Hilfe sei. „Ich wollte nicht, dass unsere Kinder meinetwegen gehänselt werden.“ Sie hörte Vokabeln ab, achtete darauf, dass die Kinder ihre Aufgaben erledigten. Geschafft! Die Töchter haben Realschulabschluss und Abitur.

Neustart nach OP

Gerne hätte Gabriele Ketelaer in sozialen Berufen, wie in der Altenpflege, gearbeitet. Doch als sie preisgab, nur die Sonderschule besucht zu haben, blieben Zusagen aus. „Das war eine große Belastung für mich.“ Nach einer erfolgreich überstandenen Tumor-Operation fasste sie den Entschluss, ihr Leben auf den Kopf zu stellen: „Ich mache den Hauptschulabschluss!“

Nach zahlreichen Telefonaten stieß sie bei der VHS in Wesel auf einen verständnisvollen Fachbereichsleiter, der sie zum Gespräch einlud. Es gab keine Altersbeschränkung, aber der Kurs war ausgebucht. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihr. Jemand war abgesprungen. Heiko Kirchesch von der VHS sagte zu. Von da an fuhr sie täglich nach Wesel zum Unterricht, verdiente sich das Spritgeld in Nachtschichten und schaffte erst den Abschluss nach Klasse 9, dann den der Hauptschule und jetzt die Fachoberschulreife. „Warum machst du das in deinem Alter? Das schaffst du eh’ nicht!“, musste sich Gabriele Ketelaer von Freunden anhören. „Sehen Sie es als Experiment, vergessen Sie diese Freunde“, hatte ihr Kirchesch Mut gemacht. Auch in Situationen, in denen sie aufgeben wollte, wie bei der ersten Klausur in Gesellschaftslehre. Heute steht eine 2 in diesem Fach auf dem Zeugnis. Englisch stand ebenfalls auf dem Stundenplan. Nur in Mathematik haperte es, obwohl ihr Mann mit ihr übte.

„Ich haben Heiko Kirchesch alles zu verdanken, er hat an mich geglaubt.“ Aber auch die ganze Familie, inklusive Enkelkinder, ist stolz! „Endlich habe ich Selbstbewusstsein, denn ich habe die Erfahrung gemacht: Bei uns zählt nicht der Mensch, sondern nur das Papier.“

Wie es besser gehen kann, möchte sie anderen weitergeben. Wie sie ihre jungen Mitschüler immer wieder ermutigt, durchzuhalten. „Sie hat sie sogar morgens abgeholt, damit sie den Unterricht besuchen“, erzählt ihr Mann. Nun strebt Gabriele Ketelaer die Qualifikation als Begleiterin von betreuungsbedüftigen Menschen an, die die AWo in Moers anbietet. So jemanden hätte sie als Kind dringend benötigt.