Rees-Haldern. Die NRZ präsentiert das Haldern Pop Festival. Heute stellen wir Seratones, Glauque und weitere vor. Was es mit den Italien-Acts auf sich hat.
Die NRZ präsentiert das 39. Haldern Pop Festival vom 11. bis zum 13. August und veröffentlicht die vierte und letzte Folge der Bandvorstellungen. Hierzu können die Konzerte auch schon örtlich und zeitlich einordnen, weil der Zeitplan diesmal frühzeitig veröffentlicht wurde. Aus Erfahrung ist aber bekannt, dass häufig kurzfristig umdisponiert werden muss, weil immer etwas dazwischen kommen kann.
Seratones können ein Launemacher sein
Freitag, Spiegelzelt, 0-0.45 Uhr: „Love & Algorhythms“ lautet der Titel des dritten Albums der Band Seratones aus Louisiana, USA. Wie passend. Denn genau diese beiden Elemente scheinen die Musik der Gruppe zu ergänzen, die ursprünglich als Soul-Rock-Formation startete. Der Sound ist entsprechend fröhlicher, poppiger geworden, auch Elektro-Einflüsse sorgen für mehr Struktur. Charme haben sowohl die älteren als auch die neueren Stücke, aber die Bandbreite wird vergrößert. Sängerin AJ Haynes kann den Soul in ihrer Stimme so oder so nicht leugnen. Musik für: die Leichtigkeit des Seins. Erlebnispotenzial: 4/5 Sterne.
Hörproben: „Two of a Kind“, „Good Day“, „Gotta Get To Know Ya“.
Freitag, Kirche, 16-16.45 Uhr (mit 1000 Robota) und Samstag, Tonstudio, 16-18 Uhr (Session mit Gästen): Auch das europäische Künstlerkollektiv Stargaze ist beim Haldern Pop kaum noch wegzudenken. Die Instrumentalisten bereichern seit Jahren die Auftritte angekündigter Acts. Die zeitgenössischen Musiker sind wahre Könner an ihren Instrumenten und überwinden die Kluft zwischen klassischer und populärer Musik. Manch ein Künstler beim Festival hat schon gestaunt, wie seine Musik durch Stargaze eine einzigartige Wendung bekommen hat. Musik für: das einmalige Konzerterlebnis. Erlebnispotenzial: meist 5/5 Sterne.
Hörproben: „Mute“ mit Loney Dear (live) in Haldern, „Cistern“ mit Jherek Bischoff (live) in Haldern.
Spektakulärer Synthie-Punk: Famous
Donnerstag, Niederrhein-Zelt, 20.15-20.50 Uhr: Instrumental ist der Sound von The Physics House Band. Das englische Trio spielt in der Besetzung Gitarre, Schlagzeug, Saxophon und Synthesizer Progressive Rock und Experimental Rock, wobei das 2021 erschienene dritte Album „Incident on 3rd“ recht jazzig daher kommt; deshalb ist vielleicht auch Jazz Fusion zutreffend. Der Erfolg der ersten Tonträger blieb zuletzt gemessen an Klickzahlen aus. Zu rockig für Jazz-Fans, zu jazzig für Rock-Fans geworden? Leicht zugänglich war die Musik nie. Musik für: den mathematisch-anspruchsvollen Ansatz. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.
Hörproben: „Teratology“ (älteres Stück), „Drifter“ (neueres Stück).
Samstag, Pop Bar, 12-12.45 Uhr: Das Londoner Trio Famous spielen spektakulären Synthie-Punk und Noise Rock. Die Art von Musik, bei der ein Rockmusik-Fan sofort genauer hinhören möchte. Jack Merretts zerbrechlicher Gesang ist prägnant, auffällig, kurz vor dem Kollaps. Die EP „The Valley“ aus 2021 präsentiert sich für sechs Lieder ganz schön vielseitig – vom Adrenalin-Schub bis zum bitter-süßen zweifelhaft glücklichen Ende. Musik für: die Seelenreise in sein anderes Ich. Erlebnispotenzial: 5/5 Sterne.
Hörprobe: „Stars“, „The Beatles“.
Donnerstag, Spiegelzelt, 20.15-21 Uhr: Loney Dear gehört zu Haldern Pops Lieblingen. Der Synthie-Pop und die sofort wiedererkennbare Stimme von Emil Svanängen sorgen für einen markanten Sound. Zweifelsohne ein Könner, ein Künstler, der sich treu bleibt. Treue Haldern Pop Fans haben den Schweden schon in allen Facetten kennen- und schätzen gelernt. Nach neun Alben ist das Repertoire üppig und trotzdem ist Loney Dear immer für eine Überraschung gut. Das 2021 erschienene Album „A Lantern and a Bell“ bietet Verspieltes und Verträumtes. Musik für: ewige Träumer. Erlebnispotenzial: 4/5 Sterne.
Hörproben: „Hulls“, „Go Easy on Me Now“.
Paartanz auf dem Halderner Markt - Kulturpartnerschaft mit der Emiglia-Romagna:
Freitag, Marktplatz, 14-16 Uhr: Die italienische Gruppe Extraliscio greift das Repertoire des von Secondo Casadei geprägten Liscio auf, eine traditionelle Tanzmusik der Romagna. Das ist natürlich etwas für den Tanz auf dem Marktplatz – reichlich Folklore. 2022 ist das Album „Romantic Robot“ erschienen, in dem Elemente des Liscio auch noch vorkommen. Ansonsten: Italo-Pop. Musik für: das Tanzerlebnis. Erlebnispotenzial: als Gemeinschaftstanz 4/5 Sterne, ansonsten 2/5 Sterne.
Hörproben: „Tassinella“, „Bianca luce nera“.
Donnerstag, Hauptbühne, 19.15-20.15 Uhr: Vasco Brondi, ein Liedermacher aus Verona, wird bestimmt auch bei Extraliscio am Marktplatz dabei sein. Seit 2007 war er als Le luci della centrale elettrica als Künstler unterwegs, seit 2020 veröffentlicht er Musik unter seinem Namen. Zu erwarten ist melodische Popmusik, tanzbar, teils Folklore, typisch italienisch. Schön im Wortklang, musikalisch niederschwellig. Die Texte lassen ein gewisses Heimatgefühl nicht vermissen. Musik für: das Kennenlernen des italienischen Musikgeschmacks. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.
Hörproben: „Ci abbracciamo“ (hier kann man schon mal einen Tanz einüben), „Chakra“.
Bettina Bruns widmet sich Annette von Droste-Hülshoff
Freitag, Kirche, 13.30-14.15 Uhr: Mit Bettina Bruns kommt ein Mezzosopranistin nach Haldern, die in der Klassik vor allem in der Neuen Musik tätig ist. Der opernhafte Gesang ist für Pop-Ohren sicherlich etwas gewöhnungsbedürftig, aber natürlich hat man sofort die Kirchenkonzerte im Sinn, wo die Berlinerin sicherlich den passenden Rahmen finden könnte. In 2022 ist das Album „Udite“ erschienen, bei dem Bruns vor allem durch Daniel Görlitz an der Gitarre begleitet wird. In Haldern wird sie Annette von Droste-Hülshoff interpretieren, der das Festival anlässlich ihres 225. Geburtstages gewidmet ist. Musik für: jene, die nach laut leise suchen. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.
Hörproben: „Dear Pretty Youth“, „Der Wanderer“.
Samstag, Spiegelzelt, 17-17.45 Uhr: Thumper sind ein Noise-Pop-Sextett aus Dublin, das Bubble-Gum-Psycho-Klänge durch eine Wand des akustischen Todes liefert. So schreibt es die Band auf ihrer Homepage. Ist vielleicht etwas dramatisiert. Ja, die Iren rocken ordentlich ab, gerne auch krachig. Der Kaugummi-Aspekt ist auch nachzuvollziehen, weil manche Stücke albern-verspielte Aspekte vorweisen. Psycho? Ein mentaler Schaden ist nicht zu erwarten. Auch der akustische Tod ist nicht zu befürchten. Vielmehr kann man das Debütalbum „Delusions of Grandeur“, das nach einigen EPs zuvor in 2022 erschienen ist, sorgenfrei, aber enthemmt genießen. Musik für: den Nervenkitzel mit Fangnetz. Erlebnispotenzial: 4/5 Sterne.
Hörproben: „Fear of Art“, „The Loser“.
Es wird laut und krachig: Gilla Band
Freitag, Spiegelzelt, 20.15-21 Uhr: Die irische Post-Punk und Noise-Rock-Band Gilla Band (ehemals Girl Band) ist wirklich derbe. Kein Weichspülgang, sondern der blanke Horror in Musik. Sänger Dara Kiely macht gar keine Anstalten Harmonie aufkommen zu lassen. Brutal-schräge Gitarrenriffs, schaurige Stimmungen, ein zerstörerischer Sound. Aber damit sind sie erfolgreich, werden in ihrer Nische millionenfach geklickt. Nach 2015 und 2019 kündigt die Band für Herbst das dritte Album an. Mit „Eight Fivers“ bestätigt ein Song im Netz: Der Psycho-Schrecken geht weiter. Musik für: den mentalen Reset. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.
Freitag, Spiegelzelt, 17-17.45 Uhr: Die belgische Formation Glauque bringt eine Mischung aus Hip-Hop und Elektro zu Gehör. Könnte auch auf dem Parookaville Festival laufen. In Haldern dürfte nicht jede Bühne in Frage kommen, eine Party im Spiegelzelt würde zu den tanzbaren Beats sicherlich passen. Die Wallonen pressen die raue Seite des französischen Wortklangs in den Gehörgang. Bei den treibenden Bässen hat man flackernde Lichter vor Augen, Nebelschwaden und Hände, die in die Höhe ragen. Musik um: sich dem Beat hinzugeben. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.
Das Tik Tok-Sternchen: Ellie Dixon
Samstag, Niederrhein-Zelt, 20.15-20.50 Uhr: Bei Tik Tok ist Ellie Dixon eine große Nummer, hat ihre Anhängerschaft um 1000 Prozent erhöht und über drei Millionen Streams bei Spotify erreicht. Einst als „Indie Pop Wunderkind“ bezeichnet, bietet sie einen verspielten, humorvollen Sound, der auch R’n’B-, Rap- oder Indie-Einflüsse erkennen lässt. Oft rappt die Engländerin, aber wenn sie singt, fällt auf, sie kann. Die Musik ist tanzbar, oft verspielt und jovial. Musik für: kurze Tik Tok-Happen. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.
Hörproben: „Green Grass“, „Space Out!“
Samstag, Spiegelzelt, 20.15-21 Uhr: Der Londoner Ethan P. Flynn bietet eine Mischung aus Pop, Elektro und Singer-Songwriter-Musik. In diesem Jahr ist die EP „Universal Deluge“ erschienen; der zweite Tonträger nach dem Debütalbum „B-Sides & Rarities: Volume 1“ (2020; ein witziger Name für ein Debüt...). Die Stimmungen bewegen sich auf der einen Achse oft auf der Höhe Melancholie, Ohnmacht, auf der anderen Achse geht’s atmosphärisch raus in die Galaxie. Die zerbrechliche Stimme unterstreicht die Atmosphäre noch. Musik um: die Ohnmacht in eine entfernte Welt zu tragen. Erlebnistpotenzial: 4/5 Sterne.
Hörproben: „Are You Doing This to Hurt Me“, „Father of Nine“
Samstag, Hauptbühne, 14.45-15.30 Uhr: Die Avantgarde-Rock-Formation Horse Lords aus Baltimore, USA, spielt den sogenannten Just Intonation-Stil, wie in Avantgarde-Komponisten La Monte Young und James Tenney nutzen. Auf teils modifizierten Instrumenten wird Musik in ganzheitlichen Intervallen gespielt. Die repetitiven Instrumentalklänge sind sehr experimentell, beinhalten Elemente aus Jazz, Krautrock und Post-Punk. Das vierte und bisher letzte Album „The Common Task“ erschien 2020. Vielleicht gibt’s ja neue Musik in Haldern zu hören. Musik für: jene, die sich in Trance versetzen wollen. Erlebnispotenzial: 1/5 Sterne.
Hörprobe: „Truthers“, „People’s Park“.
Eric Pfeil liest über italienische Musik
Samstag, Tonstudio, 19-20 Uhr: „When the Cold“ und das ist es. Genau ein Lied findet man online von Tom Jahn. Der Pianist wird also für das Haldern Pop-Publikum eine Wundertüte bleiben. Na ja, nicht ganz: Wo Piano drauf steht, wird nicht plötzlich Reggae zu hören sein. Das eine Lied jedenfalls klingt nach reduzierten, sanften Piano-Klängen. Ansonsten hat der Waldkirchener sich als Jazzmusiker einen Namen gemacht; etwa als Leiter der Bigband Dachau. Eine Bewertung ist nur schwer möglich.
Freitag, Haldern Pop Bar, 13-14 Uhr: Eric Pfeil aus Bergisch Gladbach ist neben seiner Musikerkarriere vor allem als TV-Produzent (Fast Forward, Sarah Kuttner, Charlotte Roche) und Musikjournalist bekannt. Er ist im Programm angekündigt. Wird aber aus seinem Buch „Azzuro“, das von der italienischen Musik handelt, vorlesen. Also kein Konzertauftritt.
Donnerstag, Kirche, 11-12 Uhr: Hinter Pits versteckt sich ein ukrainischer Pianist, der 2021 für Stargaze beim Konzert mit den Dirty Projectors aufgetreten ist. Gemeinsam mit Jan Brauer aus dem Trio Brandt Brauer Frick werden er und eine ukrainische Sängerin Franz Schubert interpretieren. Eine Bewertung ist nicht möglich.
>> So sind die Bewertungen zu verstehen
Zur Erklärung: Für jede Band haben wir ein Erlebnispotenzial bewertet. Über Geschmack lässt sich streiten, deshalb versuchen wir gar nicht erst, die Qualität der Musik zu bewerten. Das soll jeder Zuhörer für sich selbst tun. Wir versuchen, mit dieser Wertung einzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass dieses Konzert für Sie zum Erlebnis werden kann.
Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Ist die Musik leicht zugänglich? Gibt’s Ohrwürmer? Ist es eher eine Nischenband? Könnte der Spielort eine Rolle spielen? Wir haben es uns nicht leicht gemacht und trotzdem werden wir sicher nicht immer recht haben. Es ist eine bescheidene Entscheidungshilfe.