An Rhein und Issel. In Rees, Haldern und Isselburg stehen Bücherschränke. Unser Reporter hat mal gestöbert, was er da an Schmökern gefunden hat. Eine Lesereise.

In Deutschland gibt es öffentliche Bücherschränke schon seit Ende der 1990er-Jahre. Die ersten Exemplare sollen in Darmstadt und Hannover etabliert worden sein. Die Idee dahinter: Bücher sollen kostenlos, anonym und gänzlich ohne Formalitäten zum Tausch oder zur Mitnahme angeboten werden. Diese Freiluft-Bibliotheken befinden sich in alten Telefonzellen, früheren Trafohäuschen oder eigens für diesen Zweck gebaute Schränke.

Welche Bücher kann man darin finden? Lohnt sich ein Stöbern überhaupt? Die NRZ hat im vergangenen Jahr immer mal wieder die Bücherschränke im Verbreitungsgebiet der NRZ Emmerich aufgesucht und darin einige lesenswerte Schätzchen entdeckt. Hier eine kleine Auswahl.

>> „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger

Das ist der Bücherschrank an der Ebentalstraße in Rees, der durch das Umfeld sehr einladend gestaltet ist.
Das ist der Bücherschrank an der Ebentalstraße in Rees, der durch das Umfeld sehr einladend gestaltet ist. © Funke Foto Services GmbH | Konrad Flintrop

Möchte man einen Roman über Alzheimer lesen? Zumal der Gedanke an die Krankheit bei den meisten Menschen ein Gefühl hilfloser Angst auslöst? Nur Mut: Arno Geiger hat die Geschichte seines an Alzheimer erkrankten Vaters August erzählt. Es ist eine berührende Geschichte. Vater und Sohn teilen das Schicksal vieler Eltern-Kind-Beziehungen: Man hat sich auseinandergelebt, geblieben sind Gleichgültigkeit und Ignoranz.

Umso erstaunlicher, dass die beiden durch die Krankheit wieder Nähe zueinander aufbauen können. Denn während die Krankheit fortschreitet und das Chaos im Kopf des Älteren zunehmend größer wird, weitet sich gleichzeitig der Blick des Sohnes auf das Leben an sich. Wer einen an Alzheimer erkrankten Menschen in der Familie hat weiß, dass der Roman Frust und Hilflosigkeit der Angehörigen dimmt bis ausgeblendet. Aber davon will Arno Geiger ja auch nicht in erster Linie erzählen. Sondern davon, dass ein Leben trotz schwerer Erkrankung noch zutiefst lebenswert ist.

Geiger, Arno: „Der alte König in seinem Exil“, Carl Hanser Verlag, München 2011, 189 Seiten.

>> „Das Kochbuch der vergessenen Genüsse“ von Eva Eppard und Martin Lagoda

Kochbücher kann man nie genug haben. Aber gar nicht geschmeckt zu haben scheint es dem zeitweiligen Besitzer des Kochbuches der vergessenen Genüsse. Vermutlich, weil ihr oder ihm die Suche nach den Zutaten zu aufwendig erschien.

Zugegeben: Nicht jeder kennt Bramata und Botarga. Was aber im Glossar bestens erklärt wird. Und auch, wo man Melasse und Vincotto kaufen kann. Wer den Mehraufwand beim Einkauf und die Küchenarbeit nicht scheut, der wird belohnt mit Gaumenkitzel vom Feinsten.

Wie wäre es mit Cappuccino vom Grünkern, Hafermaultaschen mit Pilz-Kerbel-Sauce und Stachelbeer-Vanille-Mousse mit Knuperhippen? Oder Steinbuttfilet unter Fenchelsaatkruste mit Zitronenthymian? Auch Rhabarber und Ringelblume, Kalbsniere und dicke Bohne kommen in diesem hübsch bebilderten Kochbuch wieder groß raus.

Eppard, Eva und Lagoda, Martin: „Das Kochbuch der vergessenen Genüsse. Moderne Rezepte mit wiederentdeckten Zutaten“, Egmont-Verlagsgesellschaften, Köln 2009, 160 Seiten.

>> „Der Umweg“ von Gerbrand Bakker

Wie hier in Isselburg an der Minervastraße können Interessierte aus Bücherschränken kostenlos Bücher rausnehmen und auch Bücher hineinstellen, die sie vielleicht nicht mehr brauchen.
Wie hier in Isselburg an der Minervastraße können Interessierte aus Bücherschränken kostenlos Bücher rausnehmen und auch Bücher hineinstellen, die sie vielleicht nicht mehr brauchen. © Funke Foto Services GmbH | Konrad Flintrop

Nur langsam lichtet sich die Geschichte aus dem literarischen Nebel: In Der Umweg erzählt Gerbrand Bakker die Geschichte der Amsterdamer Literaturdozentin Agnes, die sich ohne das Wissen ihres Mannes in einem altem walisischen Farmhaus zurückgezogen hat, um an einer Dissertation über die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson zu arbeiten. Tatsächlich aber ist sie auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit – sie hatte eine Affäre mit einem Studenten – und mehr noch ist sie auf der Flucht vor der Zukunft. Agnes ist unheilbar krank. Im selbst gewählten Exil gibt es erneut einen jungen Mann, zu dem sich eine Beziehung quasi „ergibt“. Bakkers Erzählstil ist kurz und knapp, entfaltet dabei aber viel Poesie. Viel Raum nehmen die melancholischen Beschreibungen der Landschaft ein, in die der niederländische Autor ganz sachte Hinweise auf die Sterblichkeit einwebt. Ein Buch, das dem Leser Entschleunigung abverlangt.

Bakker, Gerbrand: „Der Umweg“, Verlag Suhrkamp, Berlin 2012, 229 Seiten.

>> „Der neugierige Gärtner“ von Jürgen Dahl

Zuletzt lebte Jürgen Dahl auf dem Lindenhof in Kranenburg. In den Sommermonaten öffnete er an Samstagen seinen Zier- und Nutzgarten für Besucher und war dabei oft anzutreffen, um mit den Gästen über das Gärtnern zu fachsimpeln. Seine Gartenkolumnen in Zeitschriften wie Kraut & Rüben, Flora oder dem Zeitmagazin haben Dahl, Buchhändler, Autor und Journalist, bundesweit bei Gartenfreunden bekannt gemacht.

Das Buch „Der neugierige Gärtner“ offenbart wie alle seine Publikationen sein profundes Wissen. Wegen seines kurzweiligen-kreativen, zum Teil humorvollen Schreibstils konnte sich der gebürtige Duisburger eine Fangemeinde über die Grüne-Daumen-Fraktion hinaus sichern.

In „Der neugierige Gärtner“ nimmt Dahl seine Leser mit durch die Jahreszeiten, beweist in 44 Aufsätzen, dass der Gärtner im Garten immer nur eine Nebenrolle spielt, während sich die Natur die Rolle des Regisseurs vorbehält.

Dahl, Jürgen: „Der neugierige Gärtner. Von gärtnerischen Tugenden und botanischen Überraschungen“, Verlag dtv, München 1998, 167 Seiten.

>> „Es klopft“ von Franz Hohler

Leichte Sommerlektüre gefällig? „Es klopft“ ist die Geschichte des HNO-Arztes Manuel Ritter, eines glücklich verheirateten Mannes, eines Vaters von zwei Kindern, der es niemals ernsthaft in Erwägung gezogen hat, fremd zu gehen. Und doch tut er es.

Am Marktplatz in Haldern wird eine alte Telefonzelle als Bücherschrank genutzt.
Am Marktplatz in Haldern wird eine alte Telefonzelle als Bücherschrank genutzt. © Funke Foto Services GmbH | Konrad Flintrop

Ritter hat es sich nach dem Besuch eines Ärztekongresses in Basel im Zug gerade bequem gemacht, da klopft eine Frau von außen an die Scheibe. Sie blickt ihn „eindringlich, fast hilfesuchend“ an. Da fährt der Zug auch schon an und sie entschwindet seinem Blickfeld. Manuel Ritter kennt die Frau nicht, die Fremde, die sein Leben verändern wird.

Ein paar Tage später sitzt die Frau, die als Übersetzerin beim HNO-Kongress tätig war, im Wartezimmer seiner Praxis. Sie eröffnet ihm, dass ihn als Vater ihres Kindes auserkoren hat und schafft es, ihn zu verführen. Wochen später ruft sie ihn an mit den Worten „Es hat geklappt“; Monate später erhält er ein Foto von Mutter und Kind.

Ritter verheimlicht die Geschichte vor seiner Familie, kann das Geschehene sogar erfolgreich verdrängen. Bis sein Sohn 20 Jahre später eine junge Frau kennenlernt, die der Fremden von damals in vielem ähnelt. Ist dies möglicherweise Ritters Tochter, in die sich sein Sohn verliebt hat? Nun muss Ritter sich seiner Vergangenheit stellen.

Ein Roman mit Sogwirkung, der den Leser vergessen lässt, dass der Ausgang der Geschichte wenig lebensnah ist und der Roman vielfach an der Oberfläche bleibt.

Hohler, Franz: „Es klopft“. Verlag Luchterhand, München 2007, 175 Seiten.

>> „Adressat unbekannt“ von Kressmann Taylor

https://www.nrz.de/staedte/kleve-und-umland/kreisverband-fuer-heimatpflege-kleve-zeichnet-sieger-aus-id226796849.htmlWarum findet man so ein Buch im öffentlichen Bücherschrank? Es geht um das Buch „Adressat unbekannt“. Das kleine Büchlein liest man nicht nur einmal, sondern viele Male. Weil es ein Kleinod ist, eine meisterhaft erzählte Geschichte. Schon bei der ersten Lektüre zieht sie den Leser so in den Bann, dass man sie erneut lesen muss, um jede Nuance der langsam kippenden Freundschaft und der folgenden tödlichen Rache noch einmal nachzuspüren. „Adressat unbekannt“ enthält den fiktiven Briefwechsel zwischen einem Deutschen und einem amerikanischen Juden in den Monaten der Machtübernahme Hitlers. Auf nur 69 Seiten entfaltet sich große Dramatik und der Inhalt beweist, wie schleichend und gleichzeitig wie schnell und zerstörerisch der Nationalsozialismus den gesunden Menschenverstand verätzt hat. „Adressat unbekannt“ wurde 1938 in der New Yorker Zeitschrift „Story“ erstmals veröffentlicht. Ein Buch von beklemmender Aktualität.

Kressmann Taylor: „Adressat unbekannt“, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2000, 69 Seiten.

>> Wo es Bücherschränke gibt

In Emmerich gibt’s keinen Bücherschrank. Man kann aber in der Stadtbücherei am Eingang kostenlos Bücher mitnehmen und hineinlegen.

In Isselburg befindet er sich gegenüber dem Rathaus an der Minervastraße.

In Rees findet man sie an der Ebentalstraße und nahe der Bäckerei Jansen in Haldern, Ecke Bahnhofstraße/Lindenstraße.

Online gibt es eine Aufstellung aller Bücherschränke in NRW bei Wikipedia. Allerdings ist die Liste unvollständig.