Rees. . Der jüdische Dr. Walter Bouscher, der in Rees praktizierte, ließ sich nach seiner Flucht im Juni 1936 aus Nazi-Deutschland in Brasilien nieder.
Porto Alegre, das heißt übersetzt „Fröhlicher Hafen“. Dort stirbt am 10. Februar 1980 im Alter von 78 Jahren der Allgemeinmediziner Dr. Walter Bouscher. Es existiert ein Foto von ihm, auf dem sich Dr. Bouscher vor seiner Praxis stehend seinem Fotografen selbstbewusst zuwendet. Neben der Eingangstür hängt ein Schild, das ihn als „Medico Approvado“ ausweist. Die Aufnahme entstand 1938 in Porto Alegre, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul.
Sein Selbstbewusstsein hinterlässt beim Betrachter den Eindruck, dass er „angekommen zu sein scheint“, erst recht, wenn man weiß, dass unruhige Zeiten und bedrohliche Situationen hinter dem jüdischen Arzt und seiner Familie liegen. Die Bouschers haben Nazi-Deutschland rechtzeitig verlassen. Gelebt haben sie zuvor in Rees. Die NRZ stellt in einer kleinen Reihe jüdische Persönlichkeiten vor, die Rees während der Nazizeit verlassen musste. Hier Folge II.
Dr. Walter Bouscher wurde in Gevelsberg geboren
Walter Bouscher wird am 18. Januar 1902 in Gevelsberg im damaligen Kreis Schwelm geboren. Das wusste selbst Bernd Schäfer nicht, der seit Jahren über die jüdische Lokalgeschichte forscht. Nachzulesen ist das Geburtsdatum auf der Heiratsurkunde, die im Klever Stadtarchiv zu finden ist.
In Kleve heiratet Bouscher Anna, genannt Anny Kiefer (*20. 5. 1907 in Osterrath, heute Meerbusch) am 20. März 1929. Sie wohnte damals in Kleve, Hafenstraße 30, er hat in Rees die Adresse Oberstadt 18. Seine Frau zieht zu ihm nach Rees.
Dr. Bouscher selbst ist schon 1928 in die Rheinstadt übergesiedelt
Walter Bouscher selbst ist schon 1928 in die Rheinstadt übergesiedelt. Er muss Kontakt mit der hiesigen jüdischen Gemeinde gehabt haben. Der fehlt nämlich für das Minjan der zehnte Mann. „Mit Minjan bezeichnet man im Judentum das Quorum von zehn (oder mehr) im religiösen Sinne mündigen Juden, das nötig ist, um einen vollständigen jüdischen Gottesdienst abzuhalten“, erklärt Bernd Schäfer. Bouschers Weg zur Reeser Synagoge ist nicht weit. Schließlich wohnt er Oberstadt 18, die Synagoge befindet sich genau daneben, Oberstadt 16.
Die Familie lebte im Piushaus an der Kapitelstraße
In der Kapitelstraße Nr. 11, dem heutigen Piushaus, hat Dr. Bouscher seine Praxis und lebt doch mit seiner Familie. Es gibt ein Foto, aufgenommen im Garten des Anwesens, dass die drei Töchter der Bouschers zeigt, Ursel (*4. 8. 1930), Annetraut (*26. 10. 1932) sowie Ruth (*1. 11. 1935).
Der sogenannte Judenboykott trifft auch Dr. Bouscher. Mit Judenboykott bezeichnen die Nationalsozialisten den Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien, aber auch Arztpraxen. Diesen plant das NS-Regime seit März 1933 und setzt ihn am 1. April 1933 in ganz Deutschland um. Somit wollen die Nazis die deutschen Juden aus dem Wirtschaftsleben drängen.
Archivar Hermann Terlinden blieb ihm als Patient treu
Die jüdischen Patienten suchen natürlich weiterhin seine Praxis auf, darunter Futtermittelhändler Samuel Wolff und sein Sohn Paul samt Familien. Auch Hermann Terlinden, Archivar aus Rees, bleibt Dr. Bouscher treu. Zunächst auch viele andere Patienten. Doch die Repressalien nehmen zu. Dr. Bouscher verliert mehr und mehr Patienten. „Vor allem nach Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze am 15. September 1935“, so Bernd Schäfer. Mit den Nürnberger Gesetzen wird die Degradierung jüdischer Bürger zu Menschen „minderen Rechts“ endgültig besiegelt und ihre Diskriminierung gezielt eingeleitet.
Bei dem Ehepaar Bouscher reift der Gedanke auszuwandern. Seine Praxis muss Dr. Bouscher aufgeben, diese wird von Dr. van Zwehl weitergeführt. Familie Bouscher findet Unterschlupf im Haus Steinbach, bis in die 1980er-Jahre Gaststätte an der Empeler Straße/Ecke Groiner Kirchweg.
Im Juni 1936 reiste Dr. Walter Bouscher allein nach Palästina
Im Juni 1936 reist Dr. Walter Bouscher allein nach Palästina, um auszuloten, ob er sich dort als Arzt niederlassen kann. Er nimmt zu dem bereits von Rees nach Palästina ausgewanderten Tierarzt Dr. Hermann Cussel Kontakt auf. Aus der Übersiedlung der Bouschers wird nichts. „Ärzte gab es in Palästina schon ausreichend, man bot ihm an, in der Landwirtschaft zu arbeiten, weil dort Arbeitskräfte fehlten, um das Land urbar zu machen“, hat Bernd Schäfer recherchiert.
Dr. Bouscher kehrt Monate später nach Rees zurück. Er beschließt jetzt, nach Brasilien auszuwandern. „Die Möglichkeit könnte das Ergebnis eines Gesprächs mit Paul Wolff – dieser reiste im Juni 1936 nach São Paulo aus – gewesen sein“, vermutet Bernd Schäfer. In São Paulo lebt bereits Wolffs Schwester Herta Rosenthal mit ihrer Familie.
Bouscher beantragt Ausreisepapiere in Berlin
Der Allgemeinmediziner beantragt Ausreisepapiere bei der brasilianischen Botschaft in Berlin. Dort erfährt er, dass man froh ist, dass sich ein Fachmann wie er in Brasilien niederlassen möchte. Im Oktober 1936 packt die Reeser Familie ihre Koffer. Weil sich im 19. Jahrhundert und später auch im 20. Jahrhundert viele Emigranten aus Europa, vor allem aber auch aus Deutschland in Porto Alegre, im äußersten Süden des Landes, niedergelassen haben, wird Dr. Bouscher der Hausarzt vieler deutschstämmiger Brasilianer.
Er arbeitet auch als Chirurg, wie ein Foto beweist. Ein Pflegerin assistiert, die Köchin des Hospitals fungiert als Anästhesistin.
Dr. Bouscher bleibt in Kontakt mit Paul Wolff. Dieser soll sogar sein Patient gewesen sein – wie sein Urenkel Fernando Luiz de Souza Heimatforscher Schäfer erzählt. Erstaunlich schon deshalb, weil Paul Wolffs Familie im mehr als 1100 Kilometer entfernten São Paulo lebt.
Die Stadt Rees lud alle Überlebenden ein
Als die von Bernd Schäfer zusammengestellte Ausstellung „Es geschah vor 60 Jahren – Erinnerungen an die Pogromnacht in Rees am 9./10. November 1938“ im November 1998 eröffnet wird, lebt Dr. Bouschers Frau Anny noch. Von der Stadt Rees erhält sie wie alle anderen Überlebenden eine Einladung zur Eröffnung. Ihr Schwiegersohn Norberto K. Scholem sagt in einem Brief ab. Er schreibt: „Leider ist Frau Bouscher nicht mehr in der Lage, eine Reise zu machen. Sie ist im Alter von 91 Jahren und erlitt im vorigen Jahr einen kleinen Hirnerguss. Seitdem kann sie fast kaum mehr sehen und benötigt dauernd zwei Gehhilfen ...“
Vom 30. August bis zum 6. September 1989 ist Anny Kiefer-Bouscher bereits am Niederrhein gewesen – in Begleitung ihrer Tochter Ursel Bouscher-Deutsch. Die ehemalige Kleverin Anny Kiefer-Bouscher hat eine gemeinsame Einladung der Städte Kleve, Emmerich und Kalkar angenommen. Ein Arbeitskreis hat dafür ein vielfältiges Programm zusammengestellt, an dem alle Gäste teilnehmen.
Kontakt zum Emmericher Heimatforscher Herbert Schüürman
Hierzu gehört eine Busfahrt nach Essen, wo die Synagoge besichtigt wird, eine Fahrt zur jüdischen Gemeinde nach Düsseldorf, eine Schiffspartie auf dem Rhein, der Festakt zur Verleihung der Johanna-Sebus-Medaille posthum an Wilhelm Frede – Frede hatte sich seinerzeit der nationalsozialistischen Weltanschauung widersetzt – und eine Busrundfahrt nach Issum, Xanten, Kalkar und Emmerich. Dabei lernt die Brasilianerin auch den Emmericher Heimatforscher Herbert Schüürman kennen.
Besonders emotional ist für die Gäste der erste Besuchstag, der sie in ihre jeweilige Heimatstadt führt, wo Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die schrecklichen Erlebnisse nach 1933 den Tag bestimmen. Aber auch der Wunsch nach Versöhnung und freundschaftlicher Begegnung mit alten Weggefährten wird an diesem Tag spürbar, heißt es von Augenzeugen. Anny Kiefer-Bouscher ist es, die sich im Namen aller Gäste bedankt mit den Worten: „Wir sind skeptisch gekommen und scheiden als Freunde.“
Dr. Walter Bouscher ist zu diesem Zeitpunkt schon neun Jahre tot.