Rees. . NRZ-Redakteurin Maria Raudszus sprach mit Bernd Schäfer darüber, was damals in Rees geschah und wie man das Gedenken wach halten kann.
Die Novemberpogrome jähren sich in diesen Tagen. Die Nationalsozialisten setzten am 9. November 1938 und in den Tagen danach zahlreiche Synagogen in Brand, zerstörten jüdische Wohnungen, Geschäfte und Bürogebäude. Rees blieb nicht verschont, auch hier wütete der Mob. Die NRZ sprach aus diesem Anlass mit Bernd Schäfer, der seit Jahren das jüdische Leben in Rees erforscht.
Welches Gefühl beschleicht Sie ob der Geschehnisse 1938?
Ein Gefühl der Hilflosigkeit. Weil sich offenbar innerhalb dieser 80 Jahre nichts geändert hat. Immer noch gibt es Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Antisemitismus. Sofort fällt mir das Attentat in Pittsburgh, USA, mit 14 Toten ein.
Was ist 1938 in Rees geschehen?
Ich möchte das mit den Beschreibungen der Zeitzeugin Liesel Bollegraf, geb. Sander, beantworten. Die damals 13-jährige Schülerin, die mit ihrer Familie im Synagogengebäude Oberstadt 16, wohnte, war morgens noch mit der Kleinbahn, begleitet von ihren Brüdern Kurt und Herbert zur jüdischen Volksschule nach Bocholt gefahren. Unterricht fand an diesem Donnerstag nicht statt, weil die Nazis ihre Schule bereits verwüstet hatten. Lehrer Nußbaum schickte die Geschwister wieder nach Hause. Verängstigt machten sich die Kinder auf den Heimweg. Als sie in Rees an der Straße Oberstadt ankamen, sahen sie eine Menschenmenge vor ihren Wohnhaus stehen. Fensterrahmen und -läden waren zerschlagen, Türen aus den Angeln gehoben. Spielzeug, Geschirr und Bettwäsche lagen auf der Straße. Im Obergeschoss der Synagoge standen SA-Männer, warfen Gebetsbücher, Gewänder, Gebetsschals und andere Kultgegenstände, die Kantor Meier Levisohn benutzt hatte, aus dem Fenster. Wobei die SA-Männer von einigen Frauen aus der NS-Frauenschaft unterstützt wurden.
Was war mit den anderen Mitgliedern der Familie Sander?
Liesels Eltern waren mit dem kleinen Bruder Walter zur Familie Isaac, die am Kirchplatz 14 wohnte, geflüchtet. Abends ging Liesel mit ihrem Gastgeber zum Synagogengebäude. Es bot sich ihnen ein schlimmes Bild: Der Gebetsraum war verwüstet worden, die Wohnung so demoliert, dass sie nicht mehr bewohnbar war. Was noch brauchbar war, nahmen sie mit. Vermutlich auch einige demolierte Kultgegenstände aus der Synagoge. Liesels Vater war schon in die Arrestzelle, die sich im Rathaus befand, gebracht worden. Übrigens hat mir diese Angaben der spätere Geschichtskenner Hubert Dahmen, der damals mit seinen Eltern in der Nachbarschaft der Sanders wohnte, bestätigt. Die Reeser Synagogen ist übrigens deshalb nicht angezündet worden, weil sie in einer Häuserflucht lag – eine Anordnung der NSDPA.
Was hat Ihr Interesse für die jüdische Geschichte geweckt?
Da sind drei Dinge zu nennen. Erstens: Mein Deutsch- und Geschichtslehrer Fritz Vorspel hat mir als Schüler die Zeit des Nationalsozialismus 33 bis 45 sehr nahe gebracht, zudem führte mein täglicher Schulweg an der Rückseite der Synagoge in Münster-Hiltrup vorbei. Zweitens hatte meine Tante Käthe die Ausbildung in dem jüdischen Kaufhaus EPA am Prinzipalmarkt gemacht und arbeitete auch später noch dort als Verkäuferin. Und drittens: Während meiner Zeit als Hauptschullehrer habe ich parallel am Gymnasium Aspel einige Stunden in Politik und Geschichte gegeben. Dabei haben drei Schüler im Schuljahr 80/81 an einem Geschichts-Wettbewerb teilgenommen, den die Körber-Stiftung ausgelobt hatte. Das Thema lautete: „Alltag im Nationalsozialismus.“ Wir haben den Untertitel „Unterdrückung und Verfolgung am Beispiel der Juden in Rees“ gewählt. Die Schüler, das waren übrigens Ruben Thiel, Benedikt Rösen und Kai Kemkes.
Welches jüdische Schicksal ist Ihnen besonders nahe gegangen?
Da sind vier Reeser Familien zu nennen, die Familie Sander, Oberstadt 16, die Familie Marcus, Markt 16, die Familie Ellbaum-Bernhard, Kirchplatz 2 und die Familie Plaat aus Haldern. Aus allen vier Familien habe ich Mitglieder persönlich kennengelernt und von ihnen ihre Lebensgeschichte erfahren.
Gab es keine Ressentiments?
Doch. Nanni Marcus, die heute noch 98-jährig in Amsterdam lebt, hat sich geweigert nach Rees zu kommen. Aber telefonisch hat sie mir ihre Lebensgeschichte dann doch erzählt. Auch Liesel Sander hatte nicht mehr nach Rees kommen wollen. Weil ihr Bruder Helmut aber nach seiner Befreiung zunächst in Rees und später in Castrop-Rauxel lebte, hat sie den Weg zurück nach Rees gefunden.
Fürchten Sie, dass die Geschichte irgendwann verblasst?
Wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt und irgendwann auch die Kinder der Zeitzeugen nicht mehr leben, die an die schicksalhafte Zeit mit persönlichen Geschichten erinnern, passiert das zwangsläufig.
Was kann man dagegen tun?
Ich habe die Hoffnung, dass Lehrer, die Geschichte und Religion unterrichten, die Geschehnisse des Pogroms und des Holocausts wach halten.
In Rees geschieht ja weit mehr.
Ja, das stimmt. Hier gibt es eine Vielzahl von Erinnerungsmöglichkeiten, die beiden jüdischen Friedhöfe, das jährliche Gedenken der Pogromnacht, die Gedenktafel am ehemaligen Synagogengebäude Oberstadt 16, die Stolpersteine, der Raum für jüdische Traditionen im Konraad-Bosmann-Museum. Ich weiß, dass uns viele Städte um die vielen Erinnerungspunkte auf engstem Raum beneiden.
Was im jüdischen Raum ist original aus der Reeser Synagoge?
Insgesamt acht Teile: vier Thora-Aufsetzer (Rimonim), zwei Thora-Schilder (Tas), ein Thora-Anzeiger (Jad) und ein Seder-Teller, den man Pesach-Fest nutzt.
Das Interview führte Maria Raudszus