Duisburg-Rheinhausen. . Rolf Karling, 57, kehrte schwer traumatisiert aus dem Bosnienkrieg zurück. Heute organisiert er eine Lebensmittelausgabe in Duisburg-Rheinhausen.

Die Wende in Rolf Karlings Leben brachte der 13. Juli 1995. Die Welt spricht heute vom Massaker von Srebrenica, von dem Massenmord an 8000 muslimischen Flüchtlingen. Es war ein heißer Sommer, ein Donnerstag. Karling, damals 34, hielt sich als Kameramann einer niederländischen Medienagentur in der UN-Zone auf. Später erzählte er in Interviews von einer „vollständigen Verwirrung im Lager“, von Tausenden bosnischen Männern, Frauen und Kindern, die Schutz vor den Serben suchten. Die Männer, erinnerte er sich, wurden den Feinden dann einfach ausgeliefert. Nachher war nichts mehr wie zuvor. Karling war traumatisiert, er wurde krank. Vollständig erholt hat er sich bis heute nicht.

Es ist Montag, über 20 Jahre später an der Rheinhauser Brahmsstraße 5a. Im Ladenlokal des Vereins Bürger für Bürger herrscht der übliche Vormittagsbetrieb. Die Schlange der Menschen, die anstehen, um sich Marken für die Essensausgabe zu holen, ist lang. Vereinschef Karling schiebt Dienst. „Wie viele Personen?“, fragt er, „wie viele Kinder?“ Und: „Geh’ mir weg mit deinem Behindertenausweis. Schmeiß’ das Ding weg, sonst denkst du am Ende noch selbst, du seist behindert.“

Die Ketchup-Attacke auf Sauerland

Rolf Karling nimmt eben kein Blatt vor den Mund. Dafür ist er bekannt, seit der „Ketchup-Attacke“ auf den damaligen Oberbürgermeister Adolf Sauerland auf dem Rheinhauser Marktplatz. 2010, nach der Love-Parade-Katastrophe, schrieb er damit Schlagzeilen. Fotos von Sauerlands rot verschmiertem Gesicht waren überall zu sehen. Heute empfindet Karling die Aktion als „dumm. Erfolgreich, aber dumm.“ Damals war er wütend, weil keiner Verantwortung übernehmen wollte. Den Auftritt in „seinem“ Rheinhausen empfand er als Provokation. „Sauerland sollte sehen, wie es ist, einer Situation völlig ausgeliefert zu sein.“

Rückblende. Rolf Karling wird 1961 in Koblenz geboren. Im Schwarzwald, wo die Familie später lebte, machte er eine Lehre zum Industriekaufmann. In den 80ern kehrte er Titisee-Neustadt den Rücken. Karling ging nach München auf die Filmhochschule. Er wurde Kameramann, zog nach Amsterdam. Von dort reiste er in Kriegs- und Krisengebiete. Ruanda, Tschetschenien, Bosnien. „Ich war da, wo es Menschenrechtsverletzungen gab. Ungerechtigkeit konnte ich noch nie ertragen.“ Karling wurde nach Osijek geschickt, Vukovar, Sarajevo, Tuzla. Dann Srebrenica. „Und plötzlich“, berichtete er später, „bist du Teil der Ereignisse und Massenmorde. Und du kannst nichts dagegen tun.“

Zwei Jahre konnte er seine Wohnung nicht verlassen

Karling verließ das Kriegsgebiet noch am selben Tag. Er flog nach Amsterdam und fuhr in seine Wohnung, die er fast zwei Jahre lang nicht mehr verlassen konnte. Eine Zeit des völligen psychischen Zusammenbruchs. Dann suchte er sich professionelle Hilfe. Nach und nach ging es ihm besser.

Inzwischen lebte seine Familie in Duisburg. Als der Vater zum Pflegefall wurde, zog Karling um, kümmerte sich um ihn. Doch die Arbeitslosigkeit nervte. Fernsehen rund um die Uhr war nichts für ihn. „Ich konnte Barbara Salesch und Alexander Hold nicht mehr sehen.“ Allmählich wurde ihm klar: „Es gibt Menschen, die sind noch schlechter dran als du.“ 2007 kaufte er mit seiner Schwester einen Lieferwagen, begann, Supermärkte abzufahren und nach Lebensmitteln zu fragen. Was er erhielt, gab er an Bedürftige weiter. Der Beginn des Vereins Bürger für Bürger.

Der Krieg nahm ihm die innere Ruhe

Karling ist ein zupackender, rastloser Mensch. Tief liegende Augen, die viel gesehen haben. Falten, Lebenslinien, die mehr erzählen, als er selbst. Karling spricht nicht mehr über Vergangenes. Er raucht Kette, es fällt ihm schwer, still zu sitzen. „Seit dem Krieg“, sagt er nur, „habe ich keine Ruhe mehr.“

Karling führt uns herum. Einschließlich Schulen und Kindergärten gibt der Verein monatlich bis zu 7000 Essen aus. Von der Anlieferung bis zur Vergabe ist alles organisiert. Bedürftige zahlen drei Euro und suchen sich die Lebensmittel aus, die sie mitnehmen. „Das sind Kunden, keine Bittsteller“, betont Karling. „Wir begegnen ihnen auf Augenhöhe.“

Eine Lobby für die Armen in Duisburg

Der 57-Jährige ist ein kantiger Typ. Einer, der aneckt, provoziert - der weiß, dass er Meinungen spaltet. „Ich bin der umstrittenste Mensch in Duisburg. Entweder man liebt mich oder man will mich aufhängen. Weil ich die Dinge beim Namen nenne.“ Noch immer kämpft er für die, die nichts haben, tritt für Roma, Asylanten und Obdachlose gleichermaßen ein. „Die Ignoranz gegenüber Kranken und Schwachen ist grenzenlos.“ Eine Lobby für die Armen in Duisburg will er sein, das hat Karling auch vor seinen Bürgermeister-Kandidaturen 2012 und 2017 verkündet. Gereicht hat es nicht. Er landete unter ferner liefen.

Er ist die Seele des Vereins Bürger für Bürger

Heute ist er da für seinen Verein. Karling ist nicht nur sein Vorsitzender, er ist seine Seele, sein Herz, sein Schrittmacher. Dieses Jahr will er das Ladenlokal auch Heiligabend und am ersten Feiertag öffnen, überlegt er laut. „Weihnachten ist hier immer die Hölle los.“

Luis kommt. Luis ist ein alter Hund, ein Mops, der misshandelt und beim Verein abgegeben wurde. Karling mag Tiere. Um den Hals trägt er die Hundemarken seines verstorbenen Cockerspaniels. Er streichelt Luis. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Mops haben würde.“ Luis wedelt begeistert. Sein ganzer kleiner Körper wedelt vor Glück. „Er ist eine arme Sau“, sagt Karling. „Schon allein deshalb behalte ich ihn.“