Duisburg. Der Mord an Duisburger Sinti und Roma während der NS-Zeit blieb bislang nahezu unsichtbar. Dabei sind einige bewegende Schicksale bekannt.

„Keiner blieb zurück“, sagt Mario Reinhardt über die Sinti, die in den 1930er- und 1940er-Jahren im nationalsozialistischen Duisburg lebten. Diese Menschen sind in der Erinnerungskultur kaum präsent, ihre Geschichte ist gerade im Vergleich zum Massenmord an den Juden kaum erforscht. Duisburger Historiker konnten jedoch in den vergangenen Jahren bewegende Schicksale rekonstruieren. Davon zeugt nun eine Ausstellung.

Es geht um Menschen wie den Auschwitz-Überlebenden Franz Lehmann, der als Lagerarbeiter bei einem Getreidespeicher und dann beim Postamt arbeitete, ehe er 1940 mit seiner Familie nach Polen deportiert wurde. Dort lebte er unter erbärmlichen Bedingungen – wahrscheinlich beim Versuch, außerhalb des Ghettos etwas zu essen zu besorgen, wurde er festgenommen und in ein Gefängnis gesteckt.

Duisburger Sinti öffnet das Familienalbum für die Wissenschaft

1942 kam der junge Mann nach Auschwitz, wo man ihn kahlschor, fotografierte und als „Berufsverbrecher“ registrierte. Nach weiteren Verschleppungen überlebte Franz Lehmann einen Todesmarsch zum KZ Buchenwald. Nach dem Krieg kehrte er nach Duisburg zurück.

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Ohne Mario Reinhardt vom Duisburger Sintiverein wäre die Ausstellung in dieser Form nicht denkbar gewesen. Reinhardt ist ein Enkel von Franz Lehmann und hat für die Historiker vom Zentrum für Erinnerungskultur (ZfE) das Familienalbum geöffnet. Er betont, wie wichtig es ihm ist, seine Vorfahren und ihre Zeitgenossen sichtbar zu machen:

„Es ist das erste Mal, dass wir unsere Toten zeigen. Wir machen uns damit transparent, sodass hoffentlich auch die Mehrheitsgesellschaft offener mit uns umgeht.“ Reinhardt verweist auf Diskriminierungen und Anfeindungen, denen Sinti und Roma auch heute ausgesetzt sind, und auf die Bilder in den Köpfen der Menschen, die dem zugrunde liegen.

Sinti litten unter nationalsozialistischen „Rassegesetzen“

Mario Reinhardts Großtante war Christine Lehmann. Anders als ihr Bruder Franz kehrte sie nie mehr aus Auschwitz zurück. Auch ihr Weg wird in der Salvatorkirche gezeigt. Christine Lehmann lebte mit dem Nicht-Sinto Karl Hessel in Duisburg zusammen. Eine Heirat war ihnen wegen der „Nürnberger Rassegesetze“ verboten.

Mario Reinhardt (m.) ist ein Nachfahre der Familie Lehmann und engagiert sich wie seine Frau Cornelia Reinhardt (l.) im Duisburger Sintiverein. Robin Richterich und Christa Frins (2. u. 4. v. l.) haben die Ausstellung konzipiert, Pfarrer Martin Winterberg (r.) hat dafür die Salvatorkirche zur Verfügung gestellt.
Mario Reinhardt (m.) ist ein Nachfahre der Familie Lehmann und engagiert sich wie seine Frau Cornelia Reinhardt (l.) im Duisburger Sintiverein. Robin Richterich und Christa Frins (2. u. 4. v. l.) haben die Ausstellung konzipiert, Pfarrer Martin Winterberg (r.) hat dafür die Salvatorkirche zur Verfügung gestellt. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

1942 erhielt sie von der Kriminalpolizei die Aufforderung, sich von Karl zu trennen; ein Jahr später ordnete die Polizei „Vorbeugehaft“ an, um „die eheähnliche Gemeinschaft zu unterbinden und die Reinhaltung des deutschen Blutes zu gewährleisten“ – so steht es in den Dokumenten.

Christine Lehmann tauchte unter, wurde jedoch 1943 entdeckt und nach Auschwitz deportiert, wo sie im darauf folgenden Jahr starb. Ihre Kinder Egon und Robert hatte sie zuvor bei Verwandten beziehungsweise einer Pflegefamilie zu verstecken versucht, doch beide Söhne wurden 1944 nach Auschwitz verschleppt. Robert, mit großer Wahrscheinlichkeit auch Egon, wurden dort ermordet.

Duisburger Polizist brachte Kinder persönlich nach Auschwitz

Die Ausstellung war in Duisburg schon einmal zu sehen. Das war 2020, mitten im Lockdown, und so blieb ihr größere Aufmerksamkeit verwehrt. Der Evangelische Kirchenkreis macht nun eine Neuauflage möglich. Die Schicksale von Familie Lehmann und anderen Sinti zeigen bis Ende Februar mehrere Tafeln in der Salvatorkirche.„Wir wollen eine Duisburger Perspektive schaffen“, sagt Robin Richterich vom ZfE über die biografische Forschung seines Teams.

Auf den Tafeln ist auch das Gesicht eines Täters zu sehen: Wilhelm Helten, Mitglied in mehreren NS-Organisationen, arbeitete bei der Duisburger Polizei im Kommissariat „KI (Z)“ („Zigeuner“). Nach dem Runderlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ war Helten verantwortlich für die Überwachung der in Duisburg ansässigen Sinti und Roma.

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Zu seinen Aufgaben gehörte die Verhängung sogenannter Vorbeugehaft, die eine Einweisung in Konzentrationslager und nicht selten den Tod der Inhaftierten bedeutete. Auch die Familie Lehmann wurde auf sein Geheiß nach Auschwitz deportiert, Christine Lehmanns Kinder Egon und Robert wurden sogar persönlich von ihm dorthin gebracht.

Insgesamt wurden in der Zeit des Nationalsozialismus mehr als 140 Sinti aus Duisburg verschleppt, mindestens 39 von ihnen in Auschwitz-Birkenau ermordet.

>>AUSSTELLUNG IN DER DUISBURGER SALVATORKIRCHE

Die Ausstellung „Die Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit“ ist bis zum 11. Februar in der Salvatorkirche zu sehen. Öffentliche Führungen werden am 3. Februar um 15 Uhr und am 7. Februar um 11 Uhr angeboten.

Als Eröffnung findet am Sonntag, 28. Januar, um 16 Uhr in der Salvatorkirche ein Gottesdienst anlässlich des Holocaust-Gedenktags (27. Januar) statt.

Die Salvatorkirche ist dienstags bis samstags von 10 bis 17 Uhr und sonntags von 9 bis 13 Uhr geöffnet. Weitere Infos zu den Veranstaltungen gibt es im Internet unter www.salvatorkirche.de.