Duisburg. Auf mysteriöse Weise verschwand 2022 ein Arbeiter bei Thyssenkrupp. Ein Podcast liefert neue Einblicke, lässt aber entscheidende Fragen offen.

Laute Rufe nach „Adalet“ (türkisch für: „Gerechtigkeit“) waren im Herbst 2022 im Duisburger Norden zu vernehmen. Über Monate hielten sich Mordgerüchte, nachdem der bulgarische Arbeiter Refat Süleyman auf dem Werksgelände von Thyssenkrupp erst verschwunden und Tage später tot aufgefunden worden war.

Bei Demonstrationen machten Tausende ihrer Wut und ihrem Misstrauen Luft. Weshalb waren diese Menschen so wütend? Dieser Frage folgt jetzt eine Ausgabe des beliebten True-Crime-Podcasts „Zeit Verbrechen“.

Für die Folge habe sie monatelang vor Ort recherchiert, berichtet Zeit-Reporterin Anne Kunze. Vor Ort, das heißt in diesem Fall Marxloh – eine Irritation gleich zu Beginn, denn der 26-jährige Refat Süleyman lebte mit seiner Familie in Bruckhausen, in der Reinerstraße, wo auch die mit Abstand größte Demonstration am 23. Oktober des Vorjahres startete.

Tod im Stahlwerk: Refat Süleyman verschwand bei Thyssenkrupp in Duisburg

Nun haben beide Stadtteile zwar eine vergleichbare Sozialstruktur und infolgedessen ähnliche Probleme, doch sind sie weder räumlich noch verwaltungstechnisch eine Einheit. Der größte Unterschied ist: Bruckhausen erfährt inner- wie außerhalb von Duisburg nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit wie das bundesweit bekannte Marxloh.

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Dennoch hat Anne Kunze, die Ausbeutungsverhältnisse in der deutschen Industrie zu ihren Themenschwerpunkten zählt, auf der Straße aufschlussreiche Gespräche geführt. Dabei bekam sie Hilfe von einem Übersetzer.

Kunze berichtet von der türkischsprachigen Minderheit aus Bulgarien, die hier sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von den Nachkommen türkischer Gastarbeiter marginalisiert werde. Interessant ist etwa ihre Beobachtung, dass sich diese Gruppe oft als fromme Muslime präsentiere – weniger aus eigenem religiösen Antrieb, sondern um bei der türkischen Community Akzeptanz zu finden.

„Beklag dich ja nicht über den Job“ – Prekäre Arbeitsbedingungen in Duisburg

Die größten Probleme der Menschen sind lange bekannt, doch weiter ungelöst: Sprachbarrieren, die behördliche Angelegenheiten, Wohnungs- und Jobsuche zu großen Hürden machen und obendrein Betrügern leichtes Spiel ermöglichen, drohende Häuserräumungen und Misstrauen gegenüber der Polizei.

Die Demonstration am 23. Oktober 2022 startete an der Wohnung von Refat Süleyman in Duisburg-Bruckhausen und endete vor den Werkstoren von Thyssenkrupp.
Die Demonstration am 23. Oktober 2022 startete an der Wohnung von Refat Süleyman in Duisburg-Bruckhausen und endete vor den Werkstoren von Thyssenkrupp. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Und natürlich die prekären Arbeitsverhältnisse, in denen viele Einwanderer aus Südosteuropa landen, mit Gehalt zum Mindestlohn, das sie mit Leistungen des Jobcenters aufstocken müssen. „Beklag dich ja nicht über den Job, den du kriegst“ – dieser Regel folgten viele aus der Community, erklärt Kunze, doch die Unzufriedenheit sei stets greifbar. So habe auch Refat Süleyman gelebt, der als Leiharbeiter bei Thyssenkrupp Reinigungsarbeiten verrichtete.

Es war erst sein zweiter Tag in dem riesigen Stahlwerk, als der junge Mann während einer Pause verschwand. Erst Stunden später wurde er als vermisst gemeldet; bis seine Leiche in einem Schlackebecken gefunden wurde, dauerte es drei Tage. Auf den leblosen Körper stieß nicht etwa die Polizei oder der Werksschutz, sondern andere bulgarische Arbeiter.

Verschwörungstheorien in der türkisch-bulgarischen Community

Dieser Umstand habe die Verschwörungstheorien innerhalb der Community befeuert, sagt Anne Kunze. Türkischsprachige Medien beteiligten sich in sozialen Netzwerken an der Desinformation und mobilisierten Tausende Menschen aus NRW, teilweise sogar aus dem Ausland, die in Duisburg auf die Straße gingen. Auch nach Abschluss der Ermittlungen im März 2023 hielten sich die Mordspekulationen.

Die Polizei sah von Anfang an keine Hinweise auf ein Verbrechen, gleichwohl sind die Umstände des Todes bis heute nicht gänzlich geklärt. Die Zeit-Reporterin hatte nach eigenen Angaben selbst Einsicht in Ermittlungsakten. Demnach sei oberhalb des Schlackebeckens ein Geländer abmontiert gewesen; Refat Süleyman könnte dort geraucht haben, dabei ausgerutscht, hineingefallen und in der zähen Flüssigkeit ertrunken sein.

Also ein Arbeitsunfall? Davon spreche man bei Thyssenkrupp nicht, berichtet Kunze, weil der Bulgare zum Zeitpunkt des Unglücks seine Pause nahm und sich an diesem Ort ohnehin gar nicht hätte aufhalten sollen. Für die Familie sei das nicht nur wegen der fehlenden Anerkennung ein Problem, sondern auch wegen nun ausbleibender Versicherungsleistungen.

Podcast „Zeit Verbrechen“: Mal wieder leidet der Ruf von Marxloh

Das Misstrauen der Menschen jedenfalls hätten Polizei und auch das Unternehmen mit zu verantworten, deutet die Journalistin an – gerade die Angehörigen hätten sich einen engeren Kontakt gewünscht: „Es gab ihn, aber viel zu wenig!“

In dem riesigen Stahlwerk im Duisburger Norden ertrank der junge Bulgare Refat Süleyman in einem Schlackebecken.
In dem riesigen Stahlwerk im Duisburger Norden ertrank der junge Bulgare Refat Süleyman in einem Schlackebecken. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Services | Hans Blossey

So bietet der Podcast einen authentischen Einblick in die Lebensrealität der Menschen, die in der Hoffnung auf Wohlstand und Akzeptanz nach Deutschland kommen und oft bitter enttäuscht werden. Zeit-Reporterin Anne Kunze berichtet mit Expertise und Empathie, doch der Folge mangelt es insgesamt an Genauigkeit. Darunter leidet – mal wieder – der Ruf von Duisburg im Allgemeinen und Marxloh im Speziellen.

Eine umfassendere Einordnung hätte vor allem diese These erfordert: Die Situation in Marxloh werde in der Stadt als Gegebenheit hingenommen, an Angeboten zur Unterstützung mangele es. Auf Bruckhausen trifft diese Behauptung vielleicht sogar zu, und in Marxloh ist schon viel Fördergeld effektlos versickert.

Polizei sieht keine Anzeichen auf ein Verbrechen

Doch die Zahl niedrigschwelliger Hilfsangebote ist kaum irgendwo so hoch wie dort, und sie soll weiter wachsen: durch Elternlandeplätze an den Schulen, auch durch die langsam absehbare Fertigstellung des Campus Marxloh. Die Wirksamkeit des 50-Millionen-Pakets „Stark im Norden“ wird sich freilich erst Jahre später zeigen – doch für Resignation und Stillstand sprechen diese Maßnahmen nicht.

Vor allem aber lässt die Folge ihre Zuhörer mit einer ganz entscheidenden Frage zurück: Warum ist ein Todesfall, bei dem die Polizei nach langen Ermittlungen keinerlei Hinweise auf eine Straftat sieht, Thema in einem Kriminalitäts-Podcast? Im schlimmsten Fall befeuert die Platzierung in diesem Format erneut die Mordgerüchte bei den Menschen, denen die Reporterin eigentlich Gehör verschaffen will.