Duisburg. Politikwissenschaftler Seçkin Söylemez erklärt, was sich an deutschen Sichtweisen auf Türkeistämmige seit 1961 geändert hat – und was nicht.

Was das übliche Bild von „den Türken“ in Deutschland mit der Wirklichkeit zu tun hat, damit hat sich die Vortragsreihe zur Stadtgeschichte im Stadtarchiv am Innenhafen beschäftigt. Gast dort war der Politikwissenschaftler Seçkin Söylemez von der Universität Duisburg-Essen (UDE). Er lieferte unter dem Titel „Duisburger Türkeistämmige zwischen medialer Konstruktion und städtischer Lebensrealität“ Beispiele dafür, wie jeweils einseitig es immer wieder gewesen ist.

Söylemez ist selbst türkischer Abstammung, ist in Deutschland geboren. Er schreibt seine Doktorarbeit über das Demokratieverständnis dieser Bevölkerungsgruppe. Von ihr wurde im Mai berichtet, dass sie mehrheitlich für den autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestimmt habe. Weniger bekannt sei, dass nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten aus Deutschland abgestimmt haben.

In Werksbaracken oder in Werksnähe in Hüttenheim, Beeck und Marxloh gewohnt

Vier verschiedene Sichtweisen auf „die Türken“ hat der Referent ausgemacht: Als sie ab 1961 nach Deutschland gekommen sind, waren sie „Gastarbeiter“, die bald wieder verschwinden würden. Zwei Drittel von ihnen hätten anfangs in Werksbaracken gewohnt. Nach dem 1973 verhängten Anwerbestopp waren es dann „Ausländer“. Sie haben heruntergekommene Häuser in Werksnähe bewohnt, so auch in Hüttenheim, Beeck und Marxloh.

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Der Militärputsch in der Türkei 1981 habe einen neuen Strom von Zuwanderern ausgelöst: die Türken als Asylbewerber. Damit hätten dann innertürkische Konflikte Einzug gehalten, Rechten gegen Linke, Türken gegen Kurden. Denn „die Türken“ gebe es ja genauso wenig wie „die Deutschen“, wenn man Landsmannschaften, Stadt und Land, Fort- und Rückschrittliche, Arme und Reiche betrachte.

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Prägend für die bundesweite Wahrnehmung seien nicht zuletzt die Schimanski-Krimis mit Götz George gewesen. Söylemez zeigte einen Filmausschnitt: schnauzbärtige Männer aus dem Arbeitermilieu, die Freude am Essen und Trinken haben, gastfreundlich sind, aber dann gewalttätig politische Konflikte untereinander austragen.

Bis heute wird über die Türken erzählt und nicht von ihnen selbst

In Duisburg habe man früh versucht, eine Kultur des aufeinander Zugehens zu schaffen, zum Beispiel mit einer türkischsprachigen Bibliothek. Aber noch die Bundesregierung von Helmut Kohl (CDU) habe 1982 erklärt: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Bis heute, so der Vorwurf des Referenten, mache sich die CDU zum Wegbereiter rassistischer Vorbehalte.

Selbst wenn der Schriftsteller Günter Wallraff 1985 („Ganz unten“) die Demütigungen und Feindseligkeiten gegen Türken brandmarke, sei das immer noch eine Erzählung über „die Türken“, nicht von ihnen. Das sei bis heute so.

Marxloh als Sinnbild für islamische Überfremdung

In der Folge des rechtsextremen Anschläge Anfang der 90er Jahre seien sie wiederum als Türken wahrgenommen worden, sei es um das Gelingen oder Nicht-Gelingen ihrer Integration gegangen.

Besuch des Kulturdirektors von Izmir in Duisburg, 1972.
Besuch des Kulturdirektors von Izmir in Duisburg, 1972. © Stadtarchiv Duisburg

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA drehe sich alles um den Islam. Marxloh sei dabei zum Sinnbild für islamische Überfremdung geworden. Eine Bedrohung, die konstruiert sei, so Seçkin Söylemez: „Die Angst vor Marxloh ist dort am größten, wo es am wenigsten so wie in Marxloh ist“. Und wenn die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung jüngst einen Beleg für die Judenfeindlichkeit „der Türken“ gesucht habe, dann nicht zufällig in Marxloh.

Dabei sei es ja nicht so, dass nur „die Deutschen“ Ängste hätten. Viele türkische Staatsangehörige hierzulande hätten wegen ihres Aufenthaltsrechts Sorge, ob sie hier bleiben könnten, sagt Söylemez. Denn in ihrer oft ländlichen Heimat seien viele Türkeistämmige aus Deutschland auch Außenseiter, etwa wegen ihrer „dicken Autos“ und der „guten Kleidung“.

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