Duisburg. Welche Verbrechen Duisburger an Juden begangen haben, weiß Historiker Ludger Heid genau. Den Vortrag dazu musste er unter Polizeischutz halten.

Den 9. November vor 85 Jahren, die Reichspogromnacht, hat der Duisburger Historiker Ludger Heid zum Anlass genommen, an die Schreckensherrschaft der Nazis zu erinnern – anhand menschenverachtender Beispiele aus Duisburg, die unter die Haut gehen. Denn auch Duisburg war Tatort des Judenmordes. Die historische Abhandlung „Müssen die Koffer wieder gepackt werden?“, die er lange vor dem Hamas-Massaker an Israelis am 7. Oktober 2023 schrieb, trug er jetzt in der Alten Brotfabrik des Künstlers Cyrus Overbeck vor – unter Polizeischutz.

Ein Foto vom 23. März 1933 hat Ludger Heid aus seinem eigenen Archiv mitgebracht. Es zeigt Ausschreitungen vor dem Duisburger Stadttheater. Zu sehen ist der damalige Oberrabbiner Jaakow Mordechai Bereisch, der von Angehörigen der SA die Barthaare ausgerissen und die Gebetslocken abgeschnitten bekommt.

Eskalation gegen Duisburger Juden im November 1938

Die Anwesenheit vieler Zuschauer auf dem Foto erklärt der Historiker mit Nazi-Propaganda – für die geplante öffentliche Demütigung des Oberrabbiners sei in den Stürmerkästen der SS geworben worden. Die in ganz Deutschland in Städten und Dörfern hängenden Stürmerkästen dienten der SS dazu, den Antisemitismus und den Hass gegenüber der jüdischen Bevölkerung massenwirksam zu verbreiten.

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In diesem Zusammenhang verweist Heid auf die aufklärerische Arbeit der Germania- und Overbeck-Brotfabrik, die Flugblätter in Brote einbackte und so über das Schicksal Deutscher jüdischen Glaubens aufklärte.

Die Hetze der Nazis durch die Zeitschrift „Der Stürmer“ habe dazu geführt, dass auch die Duisburger Synagoge auf der Junckerstraße in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 von SA- und SS-Angehörigen im Schutt und Asche gelegt wurde. Die Feuerwehr hatte die Anweisung, nicht zu löschen. „Es sollte lediglich verhindert werden, dass das Feuer auf die benachbarten Gebäude überspringt“, weiß Ludger Heid.

Nationalsozialismus: Widerstand in der Brotfabrik in Beeck

Durch seine eigene Familiengeschichte untermauert Cyrus Overbeck das historische Unrecht, das sich in Duisburg genauso wie in allen anderen Städten Deutschlands ereignete. Der Großvater und Inhaber der Brotfabrik sei zunächst gefoltert und an die Ostfront nach Minsk geschickt worden, obwohl er auf dem rechten Auge blind war. Zuvor war er mit den eingebackenen Flugblättern im Brot aufgeflogen. Von Minsk floh er mit einem Kameraden zu Fuß nach Duisburg und wurde in einem Schnellboot – außerhalb des Schiffs in der Bugtrasse versteckt – über die Ostsee nach Westdeutschland gebracht.

Historiker Ludger Heid (l.) war für seinen Vortrag zu Gast in der Alten Brotfabrik von Cyrus Overbeck.
Historiker Ludger Heid (l.) war für seinen Vortrag zu Gast in der Alten Brotfabrik von Cyrus Overbeck. © Eva Arndt

„Bei der ersten Begegnung mit meiner Großmutter hat sie ihren völlig ausgezehrten Mann zunächst nicht wiedererkennen können“, sagt Overbeck. Bis zur Befreiung Duisburgs am 12. Mai 1945 versteckte sich der Opa in einem geheimen Raum auf dem Dachboden der Brotfabrik. Für heutige Generationen ein eindrucksvolles Beispiel der Auswirkungen von Diskriminierung, Ausgrenzung, Terror und Gewalt“, so der Künstler.

Nach antisemitischen Eskalationen infolge des verschärften Nahost-Konflikts hat die Polizei vielerorts Gedenkveranstaltungen an die Pogromnacht 1938 bewacht, wie auch Synagogen wieder verstärkt unter dem Schutz der Sicherheitsbehörden stehen. Auch die Brotfabrik selbst war zuletzt Ziel einer wohl antisemitisch motivierten Tat – Hausherr Cyrus Overbeck berichtet, vor dem Gebäude bedroht worden zu sein.

>>DUISBURGER HISTORIKER: ANTISEMITISMUS IN DER MITTE DER GESELLSCHAFT

Der Hass auf Juden sei tief eingebettet im christlichen Denken – „dort liegt der Schlüssel“, sagt Historiker Dr. Ludger Heid: Der wichtigste historische Faktor, der den Holocaust möglich machte, sei die jahrhundertelange Vorbereitung der Juden für die Opferrolle durch christliche Verteufelung.

„Der Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 warf und wirft weiterhin seine Schatten weit in die Nachkriegsgeschichte. Das gilt vor allem für das Fortbestehen des Antisemitismus“, betont der Historiker. Auch heute laute der Tenor, dass Juden selbst schuld sind, dass sie von anderen Menschen gehasst werden. „Solche Zuschriften und Kommentare gab es natürlich früher auch schon. Aber es sind deutlich mehr geworden.“ In Zeiten von E-Mail und Social Media sei der Antisemitismus „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, so Heid.