Duisburg-Baerl. . Im Gegensatz zu vielen anderen weiß die lernbehinderte 19-Jährige genau, was sie will: Beiköchin werden. Die Arbeitsagentur hat andere Pläne.
Integration, Förderung, Teilhabe – Deutschland zeigt sich gerne als Land der Chancengleichheit. „Menschen mit Behinderung sind mündige und kompetente Partner. Ihre Interessen und Wünsche sind ein ganz zentraler Aspekt des Rehabilitationsprozesses.“ So schreibt es das Bundesministerium für Soziales. Unter „Mitsprache“ steht auf der Internetseite: „Die Wunsch- und Wahlrechte lassen viel Raum zur selbstbestimmten Lebensgestaltung. Sie führen zur Mitsprache bei der Auswahl der erforderlichen Leistungen.“
Zwischen Theorie und Wirklichkeit
Ein solches Amtsdeutsch ist für Anne Kretzmann aus Baerl nicht nur ermüdend. Höchstwahrscheinlich wird sie auch nur einen Bruchteil dessen verstehen, was das Ministerium zu ihren Gunsten formuliert hat. Aber Wünsche? Na klar! Was Wünsche sind, das weiß die 19-Jährige. Wünsche lassen sich an Herz und Bauchgefühl ablesen. Dafür braucht man keinen höheren Intelligenzquotienten als ihren, der bei grenzwertigen 72 liegt. „Leichte Intelligenzminderung ohne Verhaltensauffälligkeiten“ steht in einem der vielen Gutachten über sie. Dabei könnte alles so einfach sein, wenn sich das, was die Politik so wortreich formuliert, denn auch im Einzelfall umsetzen ließe.
Zwischen Theorie und Wirklichkeit thront ein Klotz namens Bürokratie. Eine Windmühle, gegen die eine Baerler Familie unermüdlich kämpft. Die Geschichte ist mittlerweile so verworren, dass sie, detailliert erzählt, viele Seiten füllen würde. Dabei läuft die ganze Sache Gefahr, aus den Augen zu verlieren, worum es eigentlich geht: Anne, 19 Jahre, Tochter einer Baerler Bäckerfamilie, nach den Ferien ohne eine Berufsperspektive, die ihren Wünschen entspricht. Das Recht auf „Selbstbestimmte Lebensgestaltung“ hat sich in ihrem Fall irgendwo zwischen Vorschriften, Akten und psychologischen Gutachten verflüchtigt.
Das Praktikum hat Anne gut gefallen
Für Eltern ist es eigentlich ein Glücksfall, wenn Kinder konkrete Berufswünsche haben. Anne, so schildern es die Eltern, weiß genau, wofür ihr Herz schlägt. Seit ihrem Praktikum in der Küche des Moerser Berufsbildungswerkes CJD steht fest: Da will sie hin! Ein realistischer Wunsch, denn die Einrichtung bildet junge Menschen mit Lernbeeinträchtigung aus.
Theoretisch genau der richtige Ort für Fälle wie Anne, bestätigt nicht nur die Führungsetage des Hauses, sondern auch eine Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung, die hier allerdings nicht zitiert werden möchte. Der Küchenchef in Moers hat dem Mädchen sehr gute Praktikumsbescheinigungen ausgestellt und befürwortet laut Aussage der Elten, dass Anne mit einem Berufsvorbereitungsjahr sanft in das Arbeitsleben einsteigt und anschließend, das ist das langfristige Ziel, eine Ausbildung als Beiköchin aufstockt.
So weit, so unkompliziert. Nun ist es aber so, dass die Agentur für Arbeit als Mittler zwischen den hehren Grundsätzen des Ministeriums und der konkreten Umsetzung vor Ort steht.
Seitenlange Stellungnahme
Selbstbestimmung hin oder her – die Duisburger Agentur für Arbeit ist der Meinung, dass Anne Kretzmann mit dem Berufwunsch überfordert sein könnte und verwehrt ihr die Finanzierung. Stattdessen soll die junge Frau zur dreimonatigen Eignungsabklärung nach Essen in das „Franz Sales Haus“, eine Einrichtung, in der Menschen mit geistiger Behinderung wohnen, arbeiten und lernen können.
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Viele Seiten lang ist die Stellungnahme der Arbeitsagentur zum Fall Anne Kretzmann. Aufgeführt wird unter anderem ein Praktikum in einer Großküche der Behindertenwerkstätten, das weinend abgebrochen wurde. Hierzu erklären die Eltern, dass ihre Tochter stundenlang Aufkleber von Äpfeln abmachen musste und verzweifelt war, weil diese Arbeit so ganz anders war als der kreative Küchenjob, an dem ihr Herz hängt.
Agentur für Arbeit rät zur „Diagnose-Maßnahme“
Die Arbeitsagentur Duisburg stützt sich auf diverse Gutachten, legt die „leichte Intelligenzminderung“ nach einer Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation als „geistige Behinderung“ aus und beteuert, dass Kosten keine Rolle spielen. Fazit der Behörde: „Aus Sicht der Agentur für Arbeit ist die Teilnahme an einer Diagnose-Maßnahme (12 Wochen) und ein 24-monatiger Besuch des Berufsbildungsbereiches einer Werkstatt für behinderte Menschen die geeignete Richtung.“ Zu den Grundsätzen für solche Förder-Entscheidungen schreibt die Agentur: „Wir handeln im Interesse der von uns betreuten Menschen. Wir beachten dabei die Neigungen und Fähigkeiten.“
Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage, warum in einem so komplizierten Fall das Mädchen nicht einfach die Chance bekommt, das Berufsvorbereitungsjahr auszuprobieren, das ihr die Verantwortlichen des Moerser Berufsbildungswerkes offenbar zutrauen.
Die theoretische Führerscheinprüfung hat die 19-Jährige neulich übrigens sehr knapp mit einem Punkt nicht geschafft. „Wir üben weiter“, sagt Heike Kretzmann. „Wenn unsere Anne etwas will, dann schafft sie das auch!“