Neuss/Düsseldorf/Bochum. . Gut vier Monate nach der Tötung einer Mitarbeiterin im Jobcenter Neuss, hat die Justiz Anklage gegen den 52-jährigen Beschuldigten erhoben. Gleichzeitig will die NRW-Arbeitsagentur ein Konzept für mehr Sicherheit in Jobcentern vorlegen. Sicherheitsschleusen werden wohl nicht empfohlen.

Die Bluttat kam unerwartet. Kochend vor Wut und mit zwei Messern bewaffnet stach am Morgen des 26. September 2012 ein 52-jähriger gebürtiger Marokkaner im Neusser Jobcenter auf eine 32-jährige Sachbearbeiterin ein. Die junge Mutter starb noch in ihrem Büro an den schweren Verletzungen. Gut vier Monate danach hat die Staatsanwaltschaft Düsseldorf jetzt Anklage gestellt. Der Tatvorwurf: Mord.

Für Staatsanwältin Britta Zur ist die Sachlage klar: Der mutmaßliche Täter ist geständig "und er ist voll schuldfähig". Das hätten die Gutachten eines psychologischen und eines psychiatrischen Sachverständigen ergeben. Die Staatsanwältin hält dem 52-jährigen Beschuldigten Heimtücke und niedere Beweggründe vor. "Das Opfer war arg- und wehrlos", sagt Zur; Merkmale, die die Tat rechtlich als "besonders verwerflich" charakterisieren. Zur Tragik des Falles gehört zudem, dass die 32-Jährige nur aus Zufall Opfer der Bluttat wurde. Der mutmaßliche Täter hatte eigentlich seinen Sachbearbeiter im Visier gehabt. Der allerdings war an dem Morgen nicht anwesend. Einer der von der Staatsanwaltschaft insgesamt bezifferten 45 Zeugen habe die Messerattacke "in Teilen gesehen", sagt Zur.

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"Der Fall Neuss wird Konsequenzen haben"

Die tödliche Messerattacke auf die junge Sachbearbeiterin hatte bundesweit für große Bestürzung besorgt. Und Forderungen nach mehr Sicherheit in Jobcentern ausgelöst. Christiane Schönefeld, Leiterin der Regionaldirektion der Agentur für Arbeit in NRW, ließ dazu kurz nach der Tat eine Arbeitsgruppe bilden unter der Leitung von Ludger Wolterhoff, Chef des Jobcenter Bochum. Das Ergebnis soll noch in diesem Januar präsentiert werden. Doch Insider kritisieren bereits jetzt, dass in dem Konzept "nicht alles stehen wird, was vor Ort Sinn machen würde".

"Der Fall in Neuss wird zu Konsequenzen führen", versichert Werner Marquis, Sprecher der Regionaldirektion der Agentur für Arbeit NRW. Etwa ein Dutzend Experten arbeiten an dem Konzept. Am Ende soll ein "Handlungskatalog" entstehen, der von baulichen Veränderungen bis zu Personal-Organisation und Mitarbeiterschulung in den Jobcentern reicht. Inwieweit die Träger der insgesamt 53 Jobcenter in NRW diese Empfehlungen dann umsetzen, werde letztlich ihnen überlassen bleiben, sagt Marquis. Bis es dazu komme, müsste das Papier zudem noch der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg zur Abstimmung vorgelegt werden und dem Bundesarbeitsministerium in Berlin. Verbreitet werden würde es dann von den Arbeitsministerien der Bundesländer. Ob das noch in diesem Jahr passiert, mochte Marquis nicht kommentieren.

Gewerkschaft Verdi fordert Sicherheitsschleusen in allen Jobcentern 

"Das Konzept fasst bis auf kleine Ausnahmen nur zusammen, was in den Arbeitsschutzgesetzen bereits geregelt ist", kritisiert unterdessen Karin Richter-Pietsch aus dem Vorstand der Bundesfachgruppe Sozial-, Kinder- Jugendhilfe der Gewerkschaft Verdi, die selbst - wie sie sagt erst nach Intervention der Gewerkschaft - in der Expertengruppe mitarbeitet. Die aus Richter-Pietschs Sicht wichtigste Vorkehrung zum Schutz der Jobcenter-Beschäftigten wären Sicherheitsschleusen an den Eingängen; wäre in Neuss eine solche Schleuse vorhanden gewesen, hätte der 52-Jährige Messerstecher das Gebäude womöglich nicht bewaffnet betreten können. "Doch Sicherheitsschleusen werden im Konzept nicht vorgeschlagen werden", bedauert Richter-Pietsch. Wohl aus Sorge davor, Jobcenter-Kunden generell zu kriminalisieren.

Als bestes Mittel für weniger Aggressionen in den Jobcentern fordert Richter-Pietsch ohnehin etwas, was in dem Konzept ebenfalls keine Erwähnung finden dürfte: "Wir brauchen mehr und qualifiziertes Personal", fordert die Gewerkschafterin, die auch Personalratschefin im Jobcenter Bochum ist. Jeder Sachbearbeiter in den Jobcenter habe sich laut Vorgaben um 110 Bedarfsgemeinschaften zu kümmern. "Tatsächlich können es aber auch 250 sein, weil nicht jeder Fall erfasst wird". Und: der Begriff Bedarfsgemeinschaft reicht vom Single-Haushalt bis zur Großfamilie. Die Belastung der Mitarbeiter sei entsprechend hoch, Rückstände bei Zahlungen seien in vielen Jobcentern die Regel. Das wiederum steigere die Belastung der Beschäftigten und erhöhe den Frust bei den Kunden.

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"Wer zu uns kommt, hat sonst nichts mehr"

Richter-Pietsch beklagt "ein hohes Aggressionspotential" an den Jobcentern. Das ergebe sich vor allem durch die besondere Lebensituation der Kunden. "Die Jobcenter sind für die Menschen die Endstation. Hier kommt hin, wer sonst nichts mehr hat." Entsprechend 'gelaunt' seien die Kunden. Hinzu komme, dass ein Drittel der Jobcenter-Beschäftigten selbst nur befristete Arbeitsverträge habe; die Bundesregierung nennt in einer Bundestagsdrucksache als offiziellen Wert 11,3 Prozent Beschäftigte mit Zeitvertrag. Richter-Pietsch: "Nach zwei Jahren ist für sie Schluss". Die Mitarbeiterfluktuation in den Jobcenter sei hoch, was ebenfalls zu Lasten der Beschäftigten und Kunden gehe, sagt Richter-Pietsch: Es brauche mindestens ein dreiviertel Jahr, bis ein neuer Mitarbeiter in der Hartz IV-Verwaltung einigermaßen eingearbeitet ist. Dass man selbst nach dieser Zeit nicht alle Feinheiten der zehn Bücher des zugrundeliegenden Sozialgesetzbuchs III (SGB III) kennt, sei selbstverständlich, meint Richter-Pietsch. Die Folge: "Mitarbeiter hier werden von Kunden dauerbeschimpft".

Ein gereiztes Arbeitsklima in den Jobcentern hat man auch in der Arbeitsgruppe in der Regionaldirektion der Arbeitsagentur in Düsseldorf registriert, sagt Werner Marquis. Ziel sei deshalb, Mitarbeiter von Anfang auch in punkto Deeskalationstraining zu schulen. '"Wir wollen, dass sie sensibler werden, um besser zu erkennen, in welcher psychischen Verfassung ihr Gegenüber gerade ist". Die 32-jährige Sachbearbeiterin in Neuss hatte ein solches Deeskalationstraining noch kurz vor ihrem Tod absolviert: Am Tag vor der tödlichen Messerattacke.