Max Mayer blickt streng in die Kamera. Ein ernster Mann, Metzgereibesitzer, Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, stolzer Bürger. Seit ein paar Wochen ist er gezwungen, den gelben Stern zu tragen, nun hat er diesen Brief bekommen: Am Abend des 26. Oktober 1941 soll er sich mit seiner Familie am Schlachthof in Derendorf einfinden. „Zur Evakuierung.“ Max Mayer ist einer von 1003 Juden, die bei der ersten großen Deportation aus Düsseldorf nach Polen ins Getto von Lodz transportiert wurden. Aber was ist danach mit ihm geschehen? Zum ersten Mal wurde nun das Schicksal all dieser Menschen dokumentiert. Beinahe lückenlos. Angela Genger und Hildegard Jakobs von der Mahn- und Gedenkstätte haben sieben Jahre dazu gebraucht - meist führte ihre Spurensuche in den Tod.
Der Schlachthof in Derendorf an jenem Oktoberabend 1941: Penibel waren Blut und Kot der getöteten Tiere weggeschrubbt worden. Aber Nässe und Gestank waren geblieben. Günter Wolff, damals 13 Jahre alt, hat nun zum ersten Mal über diese Zeit gesprochen: „Viele Menschen standen am Straßenrand und starrten uns an wie Tiere im Zoo.“
Die Deutsche Reichsbahn hatte Personenzüge mit Waggons der dritten Klasse bereitgestellt. Als der Zug schließlich mit stundenlanger Verspätung am 28. Oktober in Lodz eintrifft, liegt Schnee und es ist zwölf Grad unter Null. Die Düsseldorfer ahnen, dass „nun alles noch viel schlimmer würde.“
Geheimes Material aus
den Lagern geschmuggelt
Was sie vorfanden, haben Angela Genger und Hildegard Jakobs akribisch dokumentiert. Dazu mussten sie in den letzten Jahren unzählige Dokumente sichten, „sicher zehntausende.“ Auch geheimes Material, das später aus den Lagern herausgeschmuggelt wurde. Sie besuchten Archive in Polen, in den USA und Israel, sie sprachen mit zwei Überlebenden in Amerika, die sich zum ersten Mal über den Alptraum ihres Lebens geäußert haben. Ein Kraftakt, der die beiden Frauen auch an die eigenen Grenzen gebracht hat. Genger: „Ich befasse mich jetzt seit über 30 Jahren mit dem Thema. Aber je genauer man hinschaut, umso unglaublicher ist das, was geschehen ist.“
Durch Augenzeugenberichte erfuhren sie, dass die Düsseldorfer im Getto Lodz, das von den Nazis in Litzmannstadt umbenannt wurde, „unglaubliche Zustände“ antrafen. Ihnen wurden zwei Schulgebäude zugewiesen, ein Raum musste für fast 80 Menschen reichen, ohne Möbel, nicht mal Pritschen. Da war kein Nagel an der Wand, um etwas aufzuhängen. Ein Überlebender erinnert sich: „Wir schliefen wie die Sardinen zusammengepfercht, auf dem Boden in den Kleidern.“ Es gab kein fließendes Wasser, keine Toiletten, nur eine Sickergrube. Aber die Deportierten schienen gut organisiert zu sein. Die beiden Historikerinnen sind überzeugt: „Das lag vor allem daran, dass Rabbiner Siegfried Klein bei ihnen war.“ Ein Mann der versuchte, den Zusammenhalt zu fördern, eine Ordnung zu schaffen. An seiner Persönlichkeit, so vermuten sie, mag es gelegen haben, „dass zunächst vergleichsweise mehr Menschen überleben konnten.“
Doch auch er konnte nicht verhindern, dass im Mai 1943 von den 1003 Deportierten aus Düsseldorf, 500 ermordet wurden. Und viele endeten später in den Gaskammern von Auschwitz. Schließlich überlebten nur 13 die Gräuel der Konzentrationslager. Zu diesen Überlebenden gehörte auch Max Mayer. Er wurde am 15. April 1945 von den Amerikanern im KZ Bergen-Belsen befreit. Krank, völlig entkräftet. Danach lebte er noch exakt einen Monat.
Seine letzten Lebensjahre sind nun dokumentiert, wie alle andern Schicksale auch. Auf den letzten Seiten des Buches, das die beiden Historikerinnen jetzt herausgegeben haben, wird jeder Name aufgelistet, jedes Geburtsdatum, jeder Todestag. Sofern er exakt zu bestimmen war. Zu dem Buch erscheint eine DVD mit 1003 Kurzbiografien. Hildegard Jakobs: „Wenn jede Biografie nur eine Seite lang wäre, dann wären das schon 1003 Seiten mehr gewesen. Das hätte jedes Buchprojekt gesprengt.“
Angela Genger/Hildegard Jakobs: „Düsseldorf/Getto Litzmannstadt 1941“, Klartext Verlag, 29,95 Euro.