Düsseldorf. . Der Düsseldorfer Jörg ist 78 Jahre alt und hat seit drei Jahren Leukämie. Jeden Monat muss er zur Chemo. Trotzdem sagt er: Ein gutes Leben.
Sie hatten sich ihren Ruhestand irgendwie anders vorgestellt. Drei Söhne hatten sie großgezogen, in der eigenen Kanzlei hart gearbeitet. Jetzt wollten sie sich ihren Hobbys widmen. Tennis spielen und Golf, und vielleicht endlich einmal mehr Zeit haben für den Traum, den sie von den Eltern geerbt hatten, den kleinen Bauernhof in der Toskana. Jörg wollte schreiben und Vorträge halten in seinem Fachgebiet, das seine Leidenschaft gewesen ist.
Stattdessen sitzen sie alle vier Wochen im Untergeschoss des Marien Hospitals. Jörg, zurückgelehnt im Sessel, während langsam eine glasklare Flüssigkeit aus der Infusionsflasche in seine Vene tropft, Karin immer ein bisschen auf dem Sprung, weil sie es ist, die mit den Ärzten redet und den Schwestern, die seine Blutwerte im Kopf hat und die Entwicklung der letzten Wochen noch dazu. „Das interessiert mich einfach“, sagt sie, schließlich hat sie selbst einmal medizinisch-technische Assistentin gelernt und ein Faible für Medizin. Jörg, der Patient, interessiert sich eher weniger für seine Leukämie. „Ich höre meist nur staunend zu“, sagt er.
Der dritte Krebs
78 ist er und die Leukämie, die er seit drei Jahren hat, ist der dritte Krebs, der ihn – eigentlich sie beide – nach der Pensionierung überfallen hat. Zuerst war es der Darmkrebs, der früh erkannt und schnell und effizient behandelt wurde. Zwei Jahre war Jörg krebsfrei, und natürlich war er längst wieder golfen und hatte Oliven gepflückt an den eigenen Bäumen in Italien. Da kam die zweite Diagnose. Prostatakrebs diesmal. Wieder früh erkannt. Und wieder wird Jörg so früh behandelt, dass es kaum einen Tag gibt, an dem er sich richtig krank fühlt.
„Wir hatten großes Glück“, sagt Karin. Jedes einzelne Mal. Denn kaum ist auch diesmal die Rekonvaleszenz vorbei, im Oktober 2014, da stellt sein Kardiologe nicht nur einen unbemerkt überstandenen Herzinfarkt fest. Er sieht auch ein alarmierendes Blutbild und überweist ihn in die Hämatologie des Marien Hospitals. Und Jörg trifft die dritte Krebsdiagnose: Akute myeloische Leukämie (AML).
Für Stammzellentransplantation zu alt
Bei jungen Patienten, sagt Stefanie Gröpper, Oberärztin im Marien Hospital, „ist AML gut heilbar. Entweder mit Chemotherapie oder durch eine Stammzellentransplantation.“ Letztere kommt für Jörg nicht mehr in Frage. Er ist zu alt dafür. 70, maximal 72 Jahre ist die Obergrenze für Stammzellenübertragungen, danach wird das Risiko für den Patienten einfach zu groß, sagt Gröpper. Ohne Behandlung bleiben Jörg sechs Monate Zeit, Zeit, in der er immer schwächer werden würde und anfällig für Infekte. Wahrscheinlich würde es am Ende so ein Infekt sein, an dem er sterben würde.
Gemeinsam mit der Oberärztin und Chefarzt Aristoteles Giagounidis wägen Jörg und Karin die Alternativen ab. Eine intensive Chemotherapie bedeutet zwar eine Chance auf Heilung. Sie bedeutet aber auch ein hohes Risiko. Die zweite Möglichkeit ist ein Medikament aus den USA, das in Deutschland noch nicht zugelassen ist: Decitabine. Fünf Tage muss er das Mittel täglich bekommen, dann hat er drei Wochen Pause. Die Behandlung erfolgt ambulant. Eine Heilung verspricht das Medikament nicht. Aber eine Reduktion der Leukämiezellen.
Jörg wird Teil einer Studie
Die Zulassungsverfahren für Medikamente dauern meist Jahre. Steht ein im Ausland bereits erhältliches Mittel kurz vor der Zulassung, ist auch in Deutschland eine Behandlung zumindest in Form von Studien möglich. Das Marien Hospital nimmt an vielen solcher Studien teil, um seine Patienten bestmöglich zu versorgen. Jörg wird Teil der Decitabine-Studie. Er ist es seit drei Jahren.
Einmal im Monat verbringen sie seitdem fünf Vormittage in der Tagesklinik. Statt in die Toskana verreisen sie jetzt lieber nach Holland. „Sollte wirklich mal was sein, sind wir dann schneller wieder hier“, sagt Karin. Nächstes Jahr aber wollen sie dann doch endlich einmal wieder nach Italien. Der Professor aus dem Marien Hospital kennt eine Hämatologin in Florenz, die Jörg behandeln könnte. „Das ist das Gute an der langen Zeit, die wir hier verbringen: Man lernt sich kennen, baut ein Vertrauensverhältnis auf“, sagt Karin.
Krebsbehandlungen sind teuer
Es ist ein anderes Leben, als sie sich das vorgestellt haben. Und natürlich weiß Karin, dass es ihnen dabei noch immer um vieles besser geht als manchen anderen. Sie haben eine Familie, die sie trägt, die haben sich ein Wohlstandspolster erarbeitet, das vieles abfängt. Und sie sind Privatpatienten. Letzteres lässt sie aber auch Monat für Monat sehen, wie teuer eine Krebsbehandlung ist. 100.000 Euro kostet Jörg’ Therapie jedes Jahr. Und das ist nicht einmal die teuerste. Es gibt Medikamente, da kostet eine Infusion 6500 Euro. Kassenpatienten erfahren das meist nicht einmal. „Wäre das System transparenter, würde vielleicht nicht so viel darüber gemeckert,“ sagt Karin. Ihren vollen Namen wollen beide nicht in der Zeitung sehen, um nicht ständig auf das Thema angesprochen zu werden. Ihre Freunde wissen natürlich längst Bescheid, „wir haben es allen gesagt“, sagt Karin, „und das war richtig, denn wir bekommen dafür sehr viel Unterstützung zurück.“ Nur ganz wenige hätten sich abgewandt, aus Angst vielleicht, Karin kann das sogar ein bisschen verstehen. Dabei ist es ja nun gerade nicht so, dass die Leukämie ihr Leben beherrschte und sie keine anderen Themen hätten.
Kein Gedanke ans Ende
Die Infusion läuft langsam weiter. Jörg hat nicht das Gefühl, dass da die Heilung in seinen Arm tropft, und auch darüber, dass das Medikament ein Gift auch für die guten Zellen ist, macht er sich keine Gedanken. Da ist er ganz der rationale Jurist. „Es ist das Einzige, was meine Lebensqualität erhält – warum also darüber nachdenken?“ Seine Gelassenheit sagt er, rühre auch daher, „dass ich ein gutes Leben hatte. Wenn es jetzt zu Ende ginge, wäre ich nicht böse.“
Ans Ende denken sie aber noch lange nicht. Sie haben noch viel vor. In den USA hat ein Patient 156 Decitabine-Einheiten bekommen, das sind 13 Jahre Leben mit einer nicht heilbaren Leukämie. Das, sagt Karin lächelnd, „das würden wir gern toppen.“
>> 110 BEHANDLUNGEN PRO WOCHE
Klinik: Seit 2004 ist das Marien Hospital als Interdisziplinäres onkologisches Zentrum zertifiziert. Tumor- und Bluterkrankungen werden stationär oder in der Tagesklinik behandelt.
Ambulanz: 110 Chemotherapien werden allein in der Tagesklinik jede Woche verabreicht. Die Medikamente werden für jeden Patienten individuell zum Termin zubereitet. Denn die meisten sind sehr teuer – und können nicht lange aufbewahrt werden.