Düsseldorf. Heike Brohm aus Monheim ist ehrenamtliche Helferin am Flughafenbahnhof Düsseldorf. Sie erzählt von ihren Begegnungen mit Geflüchteten am Drehkreuz.

Salam! sagt die Mutter zu ihrem Sohn, der Vater zur Tochter, sagen die Kinder zum Vater, der Bruder zum Bruder, die Freundin zur Freundin, und niemand weiß, ob es das letzte Mal sein wird. Menschen verlassen ihre Heimat, im Nahen Osten und andernorts.

An der Hand ein oder mehrere Kinder, auf dem Rücken, das was sie tragen können, im Kopf die Fernsehbilder einer Kultur, die ihnen nicht sel­ten als verwerflich präsentiert wurde und die sie nun zu ihrer neuen Heimat machen müssen, so gut es geht. Kinder werden geboren, unterwegs, und inmitten von Müll und Schlamm in den Schlaf ge­wiegt. Den Weg zeigen nicht die Sterne, sondern Facebook und Google Maps, und es gibt auch nicht den warmen Atem von Ochs und Esel, sondern beißende Kälte, die auf der Haut schmerzt und in jede Faser kriecht, auf dem Meer oder während man stundenlang darauf wartet, die Grenze passieren zu können.

Es begab sich zu einer Zeit…

Mohamad malte einen Bus – denn sobald man im Bus sitzt ist alles gut. Wenigstens für ein paar Minuten.
Mohamad malte einen Bus – denn sobald man im Bus sitzt ist alles gut. Wenigstens für ein paar Minuten. © OH

Ihr ahnt es schon: Die Weihnachtgeschichte, die ich erzählen möchte, spielt sich nicht in Galiläa oder Judäa ab, wenngleich sie nicht selten unweit davon beginnt: 425 Kilometer Luftlinie sind Aleppo und Nazareth voneinander entfernt und liegen damit näher aneinander als Düsseldorf und Passau, wo viele der Flüchtlinge über die Grenze kommen.

Ehemaligen Event-Halle des Flughafens ist das Flüchtlings-Drehkreuz Düsseldorf

Im Achtundvierzig-Stunden-Rhythmus kommen am Düsseldorfer Flughafenbahnhof hunderte Menschen an. Düsseldorf ist ein sogenanntes Drehkreuz. Nicht selten sind es sechs- oder siebenhundert Flüchtlinge pro Zug. In einer ehemaligen Event-Halle des Flughafens werden sie kurz versorgt, bevor sie auf verschiedene Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt werden.

Die meisten stammen aus Syrien, Afghanistan und Irak. Es sind junge Männer, Familien, immer öfter auch Ältere, von denen man sich fragt, wie sie es bis hierher geschafft haben. Dort helfe ich manch­mal mit, und meine Weihnachtsgeschichte besteht aus kleinen Momentaufnahmen, die aus der Be­gegnung mit Menschen entstanden sind, welche auf der Schwelle zwischen Flucht und Ankommen stehen. Die auch gar nicht an das glauben, was Weihnachten geschah, und es vielleicht auch gar nicht gut fänden, wenn man sie als Teil der Weihnachtsgeschichte sähe. Und doch kann man in den heuti­gen Tagen vor der Haustür erahnen, was Lukas und Matthäus wohl meinten in ihrer Erzählung von der Geburt des Menschen als Mensch.

Sonderzug mit Geflüchteten kommt ohne Ansage an

Die Helfer in ihren Warnwesten stehen auf dem Bahnsteig und vertreten sich die Beine. Unvermittelt und lautlos tauchen die Leuchten des Zuges auf. Es gibt keine vorherige Ansage, denn der „Sonder­zug“ bleibt ja eine Ausnahme, er ist wie aus der Zeit gefallen, auch wenn er bereits seit Monaten alle zwei Tage kommt. Die Lok zieht dunkle Waggons, unter spärlicher Beleuchtung dämmern schemen­haft zu erkennen die Flüchtlinge, die großenteils noch gar nicht bemerken, dass sie nun ihr vorläufi­ges Ziel erreichen. Nur manchmal schauen Einzelne schon aus dem Fenster, winken, wie um sich zu vergewissern, dass dies ein Land ist, in dem man aussteigen kann.

Omari Aslam hat den Terror der Taliban in seinem Land gemalt. Der große Adler steht für Deutschland.
Omari Aslam hat den Terror der Taliban in seinem Land gemalt. Der große Adler steht für Deutschland. © OH

Zusammen gehen wir hinauf in die Halle. Die kleine Hand in meiner fühlt sich eiskalt an. Ich begleite das vielleicht fünfjährige Mädchen vom Zug nach oben, weil seine Eltern nicht genug Hände haben, um alle Geschwister und das Gepäck zu halten. Auf dem Weg wundere ich mich über die kalte Hand. Ich befühle den Unterarm: genauso kalt.

Ich schaue das Kind an: Stiefeletten, Strumpfhose, Sweat­shirt, Mütze. Keine Jacke. Das Sweatshirt und die Strumpfhose: beide vollkommen durchnässt. Die Temperaturen sind im einstelligen Bereich. Oben angekommen besorge ich als erstes eine komplette Neuausstattung. Ich gehe mit der Mutter abseits, um das Kind umzuziehen. Sehr dünne Beinchen und Ärmchen kommen zum Vorschein, und unter der Mütze ein kahl geschorener Kopf, auf dem gerade neuer Flaum wächst. Ein Vogel, der zu früh das Nest verlassen hat.

Zurück bei der Familie fragt mich ein junger Mann, warum nur die Frauen etwas bekämen. Ich schaue empört und sage, mit Hilfe des Dolmetschers, der gerade daneben steht, dass doch zuerst die Kinder dran sind, vor allem dieses Mädchen, das völlig nass gewesen sei. Da lachen sie herzlich, und auch der Dolmetscher schmunzelt. Sie haben mich auf den Arm genommen, mich auf die falsche Fährte gelockt, indem sie mein Vorurteil über arabische Machos wieder zum Leben erweckt haben. Da muss auch ich lachen und gehe erleichtert.

Marzia weint wegen des Terrors in ihrer Heimat Afghanistan.
Marzia weint wegen des Terrors in ihrer Heimat Afghanistan. © OH

Doch natürlich gibt es sie, die Machos. Ein anderer Abend. Einer Kollegin rutscht das T-Shirt über die Schulter. Alle Kinder am Maltisch schauen gebannt. Hupps! – sie zieht es schnell nach oben. Kichern und Glucksen. Ein vierzehnjähriges Mädchen aus Afghanistan, das sich mit Hilfe alter englischsprachiger Zeitungen und einem Wörterbuch heimlich Englisch beigebracht hat, lächelt. In Afghanistan sei das undenkbar, sagt sie. Eine Frau müsse dort immer darauf achten, dass so etwas nicht passiere. „Und wenn du kein Kopftuch trägst…“ Sie formt mit der Hand einen Revolver, richtet den Lauf auf uns und gibt einen lautlosen Schuss ab. Später lässt sie ein selbstgemaltes Bild da. Ein weinendes Mädchen, darun­ter die Umrisse eines winzigen Afghanistan, wo bärtige Taliban die Menschen erschießen.

Familien werden zerrissen

FlüchtlingeAber sie ist hier, in Sicherheit. „Ja, die Bootsfahrt nach Griechenland, die war wirklich gefährlich“, sagt sie. Dicht gedrängt in einem Boot mit 70 Menschen. Griechische Boote haben sie an Land geholt. Ob sie erleichtert gewesen sei, als sie die Rettung habe nahen sehen. „Ich habe nichts gesehen“, sagt sie. „Ich war in der Mitte, da kann man nichts sehen.“ Das Wort „blinder Passagier“ bekommt eine neue Realität.

Wieder ein anderer Abend. Ein junger Mann, der noch Geld für eine Fahrkarte zur Weiterreise hat, fragt mich später, als ich noch einmal auf dem Bahnsteig bin, ob dieser Zug nach Aachen gehe. Dass ich „Ja“ sage, genügt nicht. Immer wieder zeigt er auf die Gleise. Sein Blick fragt, ob der Zug auch wirklich hier abfahre, sein Fin­ger fragt, ob der Zug in diese oder jene Richtung fahre. Wir wiederholen unseren Dialog so oft, dass er schon bald ein kleines Ritual wird. Und er hält mir seine Fahrkarte hin – auf den Kopf gedreht. Ich drehe seinen Fahrschein, umkreise mit dem Finger das Wort „Aachen“ und male einen Kringel in die Luft, auf das Wort „Aachen“ auf der Anzeigetafel weisend. Da endlich entspannen sich seine Ge­sichtszüge. Und sofort beginnt er ein Gespräch. In holprigem Englisch sagt er mir, dass sein Bruder bereits in Aachen wohne. Dass er aus Syrien stamme und die Mutter zuerst den Bruder und nun auch ihn auf die Reise geschickt habe. Dass der Vater verstorben, die Mutter krank in Syrien zurückgeblie­ben sei.

Ungewisses Wiedersehen

Immer am Lachen dagegen ist die Figur oder Karrikatur auf diesem Bild.
Immer am Lachen dagegen ist die Figur oder Karrikatur auf diesem Bild. © OH

Viele hierzulande haben vor den jungen Männern mit der fremden Sprache, ihren ernsten Gesichts­zügen Angst. Sie sehen den Männern auf den Fotos mit den Terroristen so ähnlich: Ja, wie auch nicht, sie kommen ja aus der selben Gegend wie diese! Die jungen Männer sind zuerst einmal Söhne von Müttern und Vätern. Wer von uns hätte nicht auch sein letztes Geld zusammengebracht, um seinen Sohn, seine Tochter, seine Enkel aus einem Land zu bringen, in dem man am Morgen nicht weiß, ob man sich am Abend wiedersieht? Wer könnte den Gedanken ertragen, dass sein Sohn Assads Einbe­rufungsbefehl erhält, oder, noch schlimmer, der IS seine bedingungslose Gefolgschaft einfordert? Und wer mag sich vorstellen, der eigene Sohn sei endlich in Sicherheit, aber man würde ihm nicht glauben, dass er in guter Absicht käme?

Der junge Mann, der nach Aachen möchte, sagt mir kurz vor der Ankunft des Zuges – und seine Augen leuchten dabei – dass die Deutschen so nett seien. Dass er das in Syrien schon im Fernsehen gesehen habe. Und voller Begeisterung gesteht er mir, dass er alle Deutschen lieben würde. „Lieben die Deutschen auch die Syrer?“ fragt er schließlich, immer noch voller Emphase, die keine Enttäu­schung zuzulassen scheint. Eine ebenso begeisterte Antwort will mir nicht über die Lippen, bei dem Gedanken an Pegida, die Rechtsradikalen, die Berichterstattung über Quoten, Aktionspläne, Kontin­gente, der man kaum noch anmerkt, dass hier über Menschenschicksale gesprochen wird. Aber die­sen Moment der Hoffnung will ich ihm nicht kaputt machen. Ich sage ihm, dass ich ihm von Herzen wünsche, dass sein Land wieder Frieden bekomme. Da bedankt er sich und legt die Hand auf‘s Herz. – Ein Tee, eine Jacke, eine Fahrplanauskunft: Die allermeisten Menschen bedanken sich ausdrücklich, oft mit der Hand auf dem Herzen. Salam! Der Friede sei mit dir!

Aus dem Testlächeln wird ein Strahlen

Die ersten Helden der Weihnachtsgeschichte sind die Hirten, die Leichtgläubigen. Sie erkennen Jesus, den wahren Menschen, das Kind Gottes, sofort. Doch es ist gar nicht so leicht, ein Hirte zu sein. Die Kinder machen es uns vor: Wer vertrauen will, muss in Vorleistung treten. Muss von der guten Absicht im Gegenüber ausgehen. Manchmal setze ich mich an den Maltisch und warte einfach nur, was passiert. Mädchen, die ihr Testlächeln rüberschicken und dann, wenn es erwidert wird, ein offe­nes Strahlen. Es gibt inzwischen eine Wand, an der zahlreiche Kinderbilder hängen. Die meisten Kin­der malen vorgegebene Bilder aus. Aber manche Kinder malen frei. Die häufigsten Requisiten auf diesen Kinderbildern sind Boote und Busse. In den Bussen sitzen glücklich lachende Menschen. Wer es in einen Bus geschafft hat, für den ist – wenigstens für ein paar Kilometer – alles gut. Aber auch junge Frauen und Männer malen. Auf den Bildern der afghanischen Erwachsenen erscheinen die Flüchtlinge als Vögel – Symbole der Freiheit, wie mir ein Dolmetscher erklärt. Ihre Bilder beinhalten die Geschichte ihrer Flucht, angefangen von der Vertreibung durch mordende Taliban, über die Berge, das Meer, den Balkan, bis ins Land des großen Adlers: nach Deutschland.

Hand auf’s Herz: Salam und frohe Weihnachten!

Heike Brohm aus Monheim, die Autorin dieses Textes, arbeitet als hauptamtliche Pädagogin bei der Volkshochschule Düsseldorf, wo sie den Fachbereich Romanische Sprachen leitet. In ihrer Freizeit ist sie freiwillige Helferin am sogenannten Flüchtlingsdrehkreuz Flugbahnhof Düsseldorf und hat hier einige ihrer Eindrücke geschildert.