Dinslaken. Anne Prior hat ein Buch über den Novemberpogrom 1938 und die Deportation Dinslakener Juden im Zweiten Weltkrieg verfasst.

Den genauen Zeitraum, in dem sie recherchiert hat, kann Anne Prior schon kaum noch benennen. Jahrelang hat sie Informationen gesammelt, hat hunderte Seiten dicke Akten gelesen, ist unter anderem nach Düsseldorf, Koblenz, sogar nach London gereist. Immer mit einem Ziel: Licht in einige der dunkelsten Kapitel Dinslakens zu bringen. Den Novemberpogrom 1938 und die Deportation Dinslakener Juden in den Jahren 1941 bis 1944 sowie das Schicksal der Überlebenden der Konzentrationslager. Gestern stellte Anne Prior das Ergebnis ihrer Arbeit vor: Das Buch „Wo die Juden geblieben sind, ist [...] nicht bekannt“.

Nüchtern und akribisch schildert die Autorin, welche Ausmaße die Zerstörungen am 9. und 10. November 1938 erreichten. Sie schildert die Rolle zweier verantwortlicher Lehrer, des NSDAP-Kreisleiters Fritz Schulte und des Kreisberufsschuldirektors Erich Hildebrand. Auch den Machenschaften des Landrats Wilhelm von Werder widmet sich Prior ausführlich.

Über Erich Hildebrands Verwicklungen gestalteten sich die Nachforschungen schwierig: An der Dinslakener Berufsschule gab es keine Informationen über ihn, und um Einsicht in die Akte aus dem Prozess gegen Hildebrand nach dem zweiten Weltkrieg zu bekommen, musste die Autorin bis Ende Juni dieses Jahres warten: Erst nach dem Tag, an dem der 1981 gestorbene Hildebrand 110 Jahre alt geworden wäre, wurde die Akte im Landeshauptarchiv Koblenz freigegeben.

Prior enthüllt, dass Teile der Dinslakener Heimatgeschichte unvollständig sind. Bekannt war bisher die Zahl von 77 Opfern der Deportation durch die Nationalsozialisten. Die Autorin fand allein im Regierungsbezirk Düsseldorf 29 weitere Menschen, die in Dinslaken geboren wurden oder einige Zeit hier lebten und deportiert und ermordet wurden. Aber sie fand auch Hinweise auf Überlebende, die nach Dinslaken zurückkehrten: Zum Beispiel vier Frauen, die mit christlichen Männern verheiratet waren und lange unbehelligt lebten, dann aber nach Theresienstadt gebracht wurden. Zwei von ihnen, Doris Lorenzen und Nelly Reinicke, lebten danach in Dinslaken und starben unabhängig voneinander am 3. bzw. 4. Januar 1970. Und dass Doris Lorenzens Tante Meta Krakauer im Jahr 1955 als einzige Überlebende eines nationalsozialistischen Ghettos auf dem jüdischen Friedhof Dinslaken beerdigt wurde, war ebenfalls bisher nirgendwo offiziell benannt. Auch nicht auf der Gedenktafel am Friedhof.

Stellvertretender Bürgermeister Thomas Groß, dessen Großvater Nikolaus gestern vor neun Jahren selig gesprochen wurde und im Nazi-Deutschland Widerstand leistete, würdigte Priors Buch als „eindrucksvolles Bild von Dinslaken und wichtigen Puzzlestein zur Erforschung der Stadtgeschichte“. Es wolle „informieren, aufklären und ermuntern hinzuschauen, wo Unrecht geschieht“. Die Autorin wünscht sich vor allem eins: „Dass vor allem Schulen dieses Buch für den Unterricht zur Hand nehmen und nicht nur auf Berlin und andere Großstädte geschaut wird, sondern auf das, was vor Ort passiert ist.“ Ihre wissenschaftliche Arbeit, das ist für sie klar, ist mit dem Buch noch nicht zu Ende.