Dinslaken. Die Bühnenfassung des Welterfolgs von Bernd Lichtenberg wurde von der Burghofbühne inszeniert. Das überraschte den Autor bei der Premiere.

Keine weiteren Falschnachrichten: Maja Delinić hatte sehr wohl die Absicht, eine Mauer zu bauen. Nicht irgendeine Mauer, sondern die Mauer. Die aneinander gereihten, grauen Fertigbetonkomponenten bildeten am Samstagabend auf der Bühne der Kathrin-Türks-Halle eine undurchdringliche Wand, die augenblicklich dazu provozierte, sie mit Graffiti zu besprühen oder als „Mauerspecht“ - erinnert sich noch einer an das Wort? - in Souvenirstückchen zu zerlegen. Doch Maja Delinić hatte eine andere Absicht: Die Komponenten ihrer Mauer ließen sich in sich drehen und bildeten so das variable und doch eintönige Bühnenbild ihrer Inszenierung von „Good bye, Lenin“ für die Burghofbühne Dinslaken. Die Bühnenfassung des Kino-Welterfolgs von 2003 schrieb Bernd Lichtenberg, der mit Wolfgang Becker auch das Drehbuch verfasste. Er war bei der Premiere der Burghofbühnen-Inszenierung am Samstag in der Kathrin-Türks-Halle zu Gast.

Abgeschottet

Leben in der DDR. Abgeschottet. Für die Menschen der BRD ohne verwandtschaftliche Kontakte ein verborgenes Terrain. Und so beginnt auch Delinićs Inszenierung. Das Publikum starrt auf die geschlossene Mauer, belauscht - „das Leben der Anderen“ lässt grüßen - Alex Kerner (Linus Scherz), seine alleinerziehenden Schwester Ariane (Norhild Reinicke), die linientreue Mutter Christiane (Friederike Bellstedt) und ihre Nachbarn. Diese tauchen dann als erstes über dem Mauerrand auf, als Halbfiguren im typisch tristen DDR-Outfit (alles original) irgendwo zwischen Kasperle-Theater und „Waldorf & Statler“.

Die Mauer öffnet sich erst, als Christiane schon im Koma liegt, Herzinfarkt, als sie auf dem Weg zu einem Parteiempfang mit ansehen musste, wie ihr Sohn bei einer Demo verhaftet wurde. Kein Krankenbett, kein Nachthemd. Friederike Bellstedt steht oder sitzt erstarrt, tanzt in Traumsequenzen und wagt später auch zaghafte Schritte durchs Publikum. Aber immer trägt sie ihr rotes Abendkleid: die personifizierte DDR.

Was hat den Autor Bernd Lichtenberg an der Inszenierung - der dritten seines Stücks - am meisten überrascht? Seine Antwort bringt die Merkmale der Inszenierung auf den Punkt: „Es ist die bewegliche Mauer“, beantwortet er in der Pause die Frage der NRZ, und das Zeichenhafte. „Dass das Interieur nicht nachgestellt ist, sondern zeichenhaft ist. Das hat mir gut gefallen.“

Originale Requisiten

Dieses Zeichenhafte umfasst alle Bereiche der Inszenierung, die mit wenigen, allerdings bis auf eine Bank ausschließlich originalen Requisiten auskommt, diese jedoch immer wieder ins Museale erhebt.

Mit der Coca-Cola Anstoßen auf den Sozialismus. Die übrigen Requisiten und die Kleidung sind original VEB-Produkte.
Mit der Coca-Cola Anstoßen auf den Sozialismus. Die übrigen Requisiten und die Kleidung sind original VEB-Produkte. © Burghofbühne Dinslaken | M. Büttner

Maja Delinić interpretiert „Good bye, Lenin“ als Stück über das Abschiednehmen, über das Verlieren und den Verlust: Der langsame Abschied von der todkranken Mutter, von Alex verzögert durch das krampfhafte Aufrechterhalten der Vergangenheit. Das Vermissen von Gewohnheiten, vom Lieblingsessen. Der Verlust des Vermögens: Die versteckten Ostmark können nach Ablauf der Frist nicht mehr eingetauscht werden, der kleine Sparkassenbeamte steht kafkaesk hoch oben im Pult aus Mauerstelen wie die personifizierte Bürokratie im expressionistischen Stummfilm. Und, was die Bühnenfassung gegenüber dem Film viel stärker herausarbeitet: Der Verlust der Menschen der DDR: des gesamten alten Lebens, der Arbeit, der Wertschätzung ihrer Lebensleistung.

Mauer, öffne dich - oder besser nicht: Die Leere, diese Existenz im Limbo erfasst nicht nur Christiane in ihrem Koma, sondern wirkt sich im eben Zeichenhaften auf. In statischen Szenen, im frontalen Sprechen ohne Interaktion, in surrealen Sequenzen mit Sandmännchen und menschengroßen Spreewaldgurken.

„Good bye, Lenin“ ist im Film eine charmant leichte Tragikomödie. Entsprechend merkt man dem ausgesprochen zahlreich erschienenen Premierenpublikum an, dass es zum Lachen ins Theater kam. Herrlich die Slapstick-Nummer, als Matthias Guggenberger als Arianes Westfreund splitternackt im Schlafzimmer steht und Reinicke und Scherz seine Blöße im Spiel mit wechselnden Requisiten verdecken. Arno Kempf weckt mit seinem durch die Wende dem Alkohol verfallenen Klapprath Empathie und Christiane Wilke als Nachbarin und Lara Schaller als Alex Freundin sind patent.

Alternative Fakten

Eine besondere Rolle kommt Denis (Markus Penne) zu. Er ist der Regisseur des großen Spiels, mit dem Alex seiner Mutter die DDR vorgaukelt. Zitiert der Regisseur und Satellitenschüssel-Vertreter zunächst noch Filmklassiker, philosophiert über das Thema Zeit anhand von „Zurück in die Zukunft“ und Realität und Illusion in seiner Vorwegnahme der „Matrix“, erhält sein Handeln aus heutiger Sicht eine gefährliche Komponente, die in der Inszenierung allerdings nur angerissen wird. Nicht dass er das DDR-Leben als „Kostümfilm“ behandelt, sondern das Schaffen „alternativer Fakten“ ist heute nicht mehr so harmlos, wie es im Film 2003 empfunden wurde, schließlich wird die gesamte Wende als Sieg der DDR über die BRD verdreht.

„Good bye, Lenin“ geht in einer tieferen Ebene auch darauf ein, warum Lebenslügen geschaffen werden. Christiane fehlte der Mut, mit den Kindern ihrem Mann in den Westen zu folgen. Alex fehlt der Mut, seiner Mutter die Wahrheit über den Fall der Mauer zuzumuten. Diese wiederum weiß längst Bescheid. Doch sie lässt alle die Illusion einer Vergangenheit leben, die es so gar nicht gab, weil sie spürt, dass diese Illusion den desorientieren, verlorenen Verlierern Halt gibt.

Alex und Ariane werden jedoch erwachsen, werden mündig. Sie werden die Asche der Mutter verstreuen, was weder in Ost noch West erlaubt ist. Sie treffen ihre eigene Entscheidung.

Viel Applaus für fordernde zweieinhalb Stunden Theater.