Dinslaken. Die Burghofbühne Dinslaken zeigt mit „Don Quijote“ eine liebevoll-verrückte Cervantes-Adaption und gibt Tipps für ein erfülltes Leben.

Draußen prasselt der Regen, drinnen bilden die Seiten eines riesigen Buchs das schützende Zelt für Herrn Alfons (Norhild Reinicke) und den Postler Sancho Panza. Bettlaken gleich sind diese Buchseiten, sie hüllen die beiden ein, sind wie ein Kokon gegen die Welt da draußen. Eine Welt, in der der Kapitalismus im Großen wie im Kleinen regiert, in der der persönliche Vorteil mehr wiegt als Empathie und Einsatz für andere, für Schwächere in der Gesellschaft. In der die Kirche versagt hat und in der derjenige als vernünftig gilt, der sich diesem alltäglichen Wahnsinn still und unauffällig anpasst.

„Ist das alles im Leben?“, hat sich Herr Alfons gefragt. Ist ein solches Spießerdasein die Erfüllung und Bestimmung des Menschen? Oder kann man erst von sich sagen, dass man wirklich gelebt hat, wenn man sein Tun in den Dienst von anderen stellt und dabei für sich noch unglaublich viel Spaß hat, weil man ein solches Handeln als großes, aufregendes Abenteuer empfindet? Erhabenheit, Mitgefühl, Milde und Tatkraft. Romantische Ideale. Ideale der Ritterlichkeit. So wie in den alten Büchern. So wie in dem Buch, das ihm und Pansa im Unwetter der Welt Schutz bietet.

Premiere in der Kathrin-Türks-Halle in Dinslaken nachgeholt

Zu diesem Zeitpunkt der Komödie, deren Premiere die Burghofbühne Dinslaken am Donnerstag in der KTH nachholte, war Herr Alfons gar nicht mehr Herr Alfons, sondern durch eigene Entscheidung wiedergeboren als Don Quijote de la Mancha. Ein Held, der so überhaupt nicht „von der traurigen Gestalt“ war, sondern ein lebensbejahendes, quirliges, phantasievolles Wesen, das mit seiner unbändigen Leidenschaft, die Wahrhaftigkeit über die Realität zu stellen, seine Mitmenschen zu begeistern mag. Nie war Don Quijote mehr Pippi Langstrumpf als Norhild Reinicke in Damira Schumachers Inszenierung von Rebekka Kricheldorfs Komödie nach dem Klassiker von Miguel de Cervantes. Und selten hat das Ensemble der Burghofbühne seine Theaterleidenschaft im Abendspielplan fröhlicher gefeiert als in diesem Lustspiel der Verkleidung und des So-tun-als-ob.

Phantasie, die Lust am Leben und dem Leben der eigenen Träume im Spiel mit anderen. Das Kind in sich wiederfinden. Und das alles, um neue Perspektiven auf gesellschaftliche Themen zu werfen. Das ist das Theater, das leistet Theater ebenso wie die Literatur. Deshalb ist Kricheldorfs Interpretation von Don Quijote nicht die Satire über einen, den zu viel Eskapismus mit der Fantasy-Literatur seiner Zeit in den Wahnsinn trieb, sondern eine Satire über ein Spießbürgertum, dem noch geholfen werden kann, wenn da nur jemand ist, der es zwingt sich zu erinnern, das in jedem Menschen mehr steckt als das, was die gesellschaftlichen Alltagszwänge zulassen. Bühne frei und Buch auf für Don Quijote!

Sancho Pansa entpuppt sich als ganz schöner Ziegenzähler

Norhild Reinicke tobt und hat Spaß, schwadroniert und galoppiert geziert auf dem Wischmopp namens Rosinante. Matthias Guggenbergers Sancho Pansa hat ebenfalls noch Träume: von Ruhm, Ehre und Geld. Als er sich selbst am Geschichtenerzählen versucht, entpuppt er sich als ganz schöner Ziegenzähler, sprich: Korinthenkacker. Aber er ist ein bedingungsloser Freund. Und Freunde von Herrn Alfons alias Don Quijote sind auch die junge und deshalb in Sachen große Träume noch recht unverdorbene Nichte (Vanessa Stoll) und der Pfarrer (Markus Penne) und der Barbier (Matthias Guggenberger). Den beiden Schauspielern sind ihre Rollen wie auf den Leib geschrieben. Denn um Herrn Alfons zu kurieren, spielen die beiden selbst Komödie. Und es kommt, wie es komme muss. Sie erinnern sich an ihre Jugend und bald gehen sie ganz real in Ouijotes Lesestoff auf: Ihre Kleidung gleicht den bunten Vorsatzpapier des überdimensionalen Bühnen-Buchs (Bühne und Kostüme. Natalie Meyer).

Markus Penne darf als „Prinzessin“ und als „Teufel“ sein komisches Talent unter Beweis stellen, während Don Quijote immer wieder ganz schnell die Seiten umblättert, wenn das Kapitel mit den Windmühlen naht: Niederlagen passen nicht in seine kindliche Phantasiewelt, in der jedes Abenteuer mit der Titelmusik der Zeichentrickserie aus den 70er Jahren beginnt. Was aber wäre dieser Don Quijote ohne das Abenteuer Sprache. Rebekka Kricheldorf gelingt es, ihre Helden durch eine prall gefüllte Wörterwelt tollen zu lassen: Bildgewaltig, in die höchsten stilistischen Höhen steigend und im nächsten Moment schroff abfallend in die tiefsten Niederungen der Alltagssprache. Diese Wörterwelt ist dabei so natürlich, dass man sie in ihrer bunten Vielfalt nicht nur hören, sondern förmlich sehen kann: Eine Welt, in der es sich lohnt, zu leben, mit andere zu kommunizieren oder der eigenen Phantasie Ausdruck zu verleihen.

Es ist Herr Alfons, der an den Punkt gelangt, nun sei es genug und auch die beste Geschichte brauche ein Ende. Der Punkt ist erreicht, als „Don Quijote“ alle in sein Reich der Phantasie gezogen hat. Die gar nicht mehr spießigen Freunde, aber auch das Publikum. Dieses holte das Ensemble mit rhythmischen Applaus häufiger auf die Bühne zurück, als der Fährmann Ziegen übergesetzt hat. Dreimal? Viermal? Auf jeden Fall fantastisch oft.

>>Info: Mit dem Theater gespielt

Das Spiel mit dem Sein und Schein gehört zum Theater dazu: Regisseurin Damira Schumacher machte sich mit Rebekka Kricheldorfs Komödie geradezu einen Spaß daraus, das Publikum zu foppen.

Da ist das Ende des ersten Textfragments, dass eine Kampfszene völlig unvermittelt abbrechen lässt. Wird die Zeit des Wartens auf die Fortsetzung mit der Pause überbrückt? Nein. Die Wartezeit wird erst ausgesessen und dann eine Alternativlösung gefunden. In der Zwischenzeit hat man sich daran gewöhnt, das die Realität in die Fantasiewelt dergestalt einbrechen kann, das Norhild Reinicke als Don Quijote mit einem Bühnenarbeiter spricht.

Und dann hält Sancho Pansa seinen großen Monolog und dabei geht das Saallicht an. Wer will schon Pansa hören? Pause! Das Publikum ist irritiert. Guggenberger redet doch noch, da kann man doch nicht aufstehen. Doch. Spiel ist Spiel. Und dieses Spiel heißt, wir brechen die Regeln des Konventionellen, ein Hoch auf die kindliche Anarchie der Phantasie.