Voerde. Ursula Reinartz gibt die Leitung der Gesamtschule in andere Hände. Warum der Weg zur Lehrertätigkeit für sie keine Selbstverständlichkeit war.

Mädchen machen Abitur, gehen studieren – was heute für viele junge Frauen als selbstverständliche Option gilt, war zu der Zeit, als Ursula Reinartz jung war, noch eine Besonderheit. Frauen heiraten, bekommen Kinder, die gesellschaftliche Erwartung an sie waren andere, die Rollen klar verteilt. Erst 1977 kippte in Deutschland das Gesetz, wonach sie ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner nicht arbeiten durften. Ein Jahr zuvor baute Ursula Reinartz ihr Abitur. Ein „guter Realschulabschluss“ würde reichen, fanden die Eltern – und das nicht, weil sie etwa bildungsfern waren. Doch Tochter Ursula wollte ihren eigenen und nicht den vorgezeichneten Weg gehen, der sie am Ende ihrer beruflichen Laufbahn an den Niederrhein nach Voerde führen sollte: an die Comenius-Gesamtschule, von der sie sich heute verabschiedet. Die 66-Jährige geht in den Ruhestand.

Ursula Reinartz musste ihr Studium selbst finanzieren

Nach einem sehr kurzen Ausflug in die Rechtspflege, wo sie zwei Wochen nach Beginn ihrer Ausbildung hinwarf, begab sie sich auf den Pfad, der sie zum gewünschten Ziel bringen sollte. Schnell wusste sie während ihres Abstechers in den Justizdienst, „dass das reine Verwaltungsarbeit ist. Das wollte ich nicht. Ich wollte in die Schule“, sagt sie. Also begann Reinartz, in ihrer Geburts- und damaligen Heimatstadt Düsseldorf Englisch und Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität zu studieren – das Auslandsstudium absolvierte sie in Wales. Kein leichter Weg: Als Tochter einer Arbeiterfamilie musste sie dafür selbst aufkommen. Um das Studium zu finanzieren, gab sie Kurse an der Volkshochschule. Dabei sammelte sie Erfahrungen, die ganz wertvoll waren, die VHS-Kurse gaben ihr selbst Praxis. Später arbeitete Ursula Reinartz als wissenschaftliche Hilfskraft.

Die erhoffte Anstellung an einer weiterführenden Schule nach Abschluss der zweijährigen Referendarzeit ließ erst einmal auf sich warten: Damals, Mitte der 80er Jahre, herrschte „Lehrerschwemme“, berichtet Ursula Reinartz. Es gab viel mehr Anwärter als Stellen – wie die Zeiten sich ändern. Also begann Ursula Reinartz 1985 eine Tätigkeit als unterstützende Lehrerin an einer sozialpädagogisch orientierten Berufsbildungsstätte in Moers, wo sie mittlerweile seit 30 Jahren lebt.

Wechsel nach Voerde reizte Ursula Reinartz aus mehreren Gründen

Schließlich wechselte sie 1991 nach Neuss an eine Gesamtschule, die sich, wie ihre spätere Wirkungsstätte in Voerde, damals im Aufbau befand. Dieser Umstand reizte sie später mit Ende 50 dann auch, von Mönchengladbach 2015 an den Unteren Niederrhein zu wechseln. Verbunden war das mit einem weiteren Schritt hoch auf der Karriereleiter: Auf den Stellvertreterposten an einer Gesamtschule folgte in Voerde die Leitung der Schule, die dort gerade an den Start ging.

Gereizt hat Ursula Reinartz an ihrer neuen verantwortungsvollen Tätigkeit die Aufgabe, „die inhaltlichen und organisatorischen Komponenten“ zusammenzuführen – und dazu die „Chance, Schule völlig neu zu denken“. Leitlinie dabei sei für sie und ihre Stellvertretung gewesen zu schauen, „was das Beste für unsere Schüler ist“. Lernbüros wurden eingerichtet. Vorher wurde eine Schule in Aachen besucht, die mit diesem Modell arbeitet, und die Frage geklärt: „Können wir das hier umsetzen?“ Heute wird regelmäßig evaluiert: Was ist gut, wo muss nachgesteuert werden? In der Vorbereitungsgruppe zur Gründung der Comenius-Gesamtschule Voerde wurde „das Fach Glück erdacht“. Es ging um Möglichkeiten, „in die soziale Interaktion zu kommen“.

Miteinander lernen und umgehen, sich gegenseitig Wertschätzung entgegen bringen – das sind einige der Leitmotive, dener sich die Comenius-Gesamtschule verschrieben hat. Dazu gehört auch das selbstständige Lernen, bei dem der Einsatz von digitalen Medien eine wesentliche Rolle spielt. „Wir sind immer mehr papierlos“, berichtet Ursula Reinartz.

Das Lernen hat sich ihrer Einschätzung nach „zum Positiven geändert“. Damit meint sie die Arbeit im Team: „Das wird in der Welt benötigt. Das geht nicht mehr anders“, erklärt die 66-Jährige. Firmen seien häufig in Teamarbeit organisiert – „mit dem zunehmenden Personalmangel umso mehr“.

Dass Kinder heute Lehrern weniger Respekt entgegen bringen als zu ihrer eigenen Schulzeit, glaubt Ursula Reinartz nicht: Die Gesellschaft damals sei sehr viel autoritärer organisiert gewesen. „Früher gab es einen formalen Respekt“, die Kinder heute hätten im Vergleich zu damals ein anderes Selbstverständnis, seien kritischer. „Die Wertschätzung muss in beide Richtungen gehen“, findet die Schulleiterin, wobei klar sein muss, dass Lehrer als Erwachsene in einer anderen Rolle und den Kindern in der Erfahrung voraus seien. „Das gilt es zu vermitteln“, was auch bedeute, Grenzen aufzuzeigen. „Es gibt auch die Schüler, die sich daneben benehmen“, erklärt Reinartz, die von sich selbst sagt: „Ein bisschen streng bin ich schon gewesen.“ Ihr Credo: „Kinder müssen merken, dass man sie unterstützen will. Dann kommt man auch klar als Lehrer.“

Das System Schule sei im Laufe ihrer über 30-jährigen Dienstzeit „verwaltungsmäßig komplexer geworden“. Mit Blick auf ihre Tätigkeit als Schulleiterin spricht sie etwa gesetzliche Bestimmungen, die „aufwendigen“ Lehrereinstellungsverfahren, Dienstrechtliches oder den Personalmangel mit dem Versuch, Vertretungslösungen zu finden, an. Den kleinsten Teil ihrer Tätigkeit als Lenkerin der Comenius-Gesamtschule machte das Unterrichten aus. Das Faszinierende daran: „die vielen unterschiedlichen Gedanken und Aspekte, die Kinder mitbringen, zu bündeln“ und sie damit weiterbringen zu können. „Es hat Freude gemacht, die Fortschritte und Erfolge zu sehen.“

Ursula Reinartz hat an drei Gesamtschulen gearbeitet – nur während der Referendarzeit war sie an einem Gymnasium und zwischendurch auch an einer Realschule tätig. „Ich war immer eine Verfechterin von Gesamtschule“, erklärt sie, weil sie glaubt, dass dort Kinder jeglicher Herkunft zusammenkommen können – aus allen sozialen Bereichen, aus unterschiedlichen Ländern, Religionen. Das Ziel von Gesamtschule sei es, ein Ort des „leistungsmäßigen“ und damit am Ende „des sozialen Aufstiegs“ zu sein. „Gesamtschule eröffnet Kindern die meisten Chancen“, ist Ursula Reinartz überzeugt.

2024: Erste Abizeugnisausgabe an der Comenius-Gesamtschule Voerde

In Voerde habe sie die „schönste Zeit“ während ihrer beruflichen Tätigkeit erlebt. Wegen der Schülerinnen und Schüler und des jungen Kollegiums, das mitangepackt und losgelegt habe, und wegen der vielen Möglichkeiten, die es gab. „Die Schule ist mir ans Herz gewachsen und ich bin mit ihr gewachsen“, sagt Ursula Reinartz, die das Ende der Aufbauphase nicht mehr aktiv mitbekommt: Wenn in einem Jahr aber zum ersten Mal an der Comenius-Gesamtschule Abiturientinnen und Abiturienten ihre Zeugnisse entgegen nehmen, möchte sie gerne dabei sein. Dann als Gast.