Hünxe. Die aus Russland stammende Pianistin und Musikwissenschaftlerin Anna Zassimova gab auf Schloss Gartrop ein Konzert, das ein klares Statement war.

Menschen in der Opposition zum Kreml: mundtot gemacht, von Gefängnis bedroht oder tatsächlich in Haft aus der Öffentlichkeit verschwunden. Ein Thema, über das im Westen gesprochen wird, heute wie vor 100 Jahren. Aber wie sieht es im Inneren dieser Menschen aus?

Der Blick von Außen nimmt ihre Ohnmacht wahr, vernimmt die Stille des erzwungenen Schweigens. Was hören sie selbst? Was fühlen sie selbst? In der edlen, friedlichen, schützend vor aller Hektik der Welt von der Natur umgebenen Kulisse von Schloss Gartrop in Hünxe ließ die aus Moskau stammende Pianistin Anna Zassimova im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr das Publikum teilhaben an der Gefühlswelt eines Menschen, der unter den Machthabern im Kreml leidet.

Ihre Interpretation der 3. Klaviersonate f-moll von Wsewolod Saderazki (1891 – 1953) war das dramatische Finale, auf das ihr Konzert den gesamten Abend hinsteuerte. Ein musikalischer Ausbruch, der dem Hörenden und Nachfühlenden unter die Haut ging.

Anna Zassimova erhielt Konzertnoten von Saderazkis Sohn

Denn Anna Zassimova, Dozentin an der Musikhochschule Karlsruhe und zum vierten Mal beim Klavier Festival dabei, ist nicht nur Pianistin, sondern auch Musikwissenschaftlerin: sie versteht die Sprache der Musik genau und weiß sich bestens darin auszudrücken. Hinzu kommt der Forschergeist: Saderazki, der enge Verbindungen zum letzten Zaren hatte und entsprechend bei den Sowjets in Ungnade fiel, ist auch in Russland kaum bekannt.

Die Noten, die Zassimova spielte, hatte sie vor vier Jahren von Saderazkis Sohn erhalten. Die Schubert-Stücke des Programms wiederum waren dem Schwerpunktthema des letzten Klavier-Festivals unter der Intendanz von Prof. Franz Xaver Ohnesorg geschuldet.

Stücke von Schubert und Liszt

Mit Schubert beginnt Zassimova dann auch das Programm. Das Allegretto in c-moll D 915. Ein Stück voller Fragen, banger Hoffnungen und Resignation. Anna Zassimova spielt es verhalten, fast zögerlich. Schwung kommt erst im zweiten Stück in ihren Vortrag, Schuberts „Ungarische Melodie“, die er, die er, der österreichische Komponist, einer Magd aus dem Osten Europas ablauschte.

Es folgt das Petrarca-Sonett 123 aus Franz Liszts „Années de pèlerinage“ und mit dem Nocturne Nr. 4 von Gabriel Fauré erreicht der erste Teil des Programms langsam sein Ziel: die Heimat Musik.

Schlussapplaus: Anna Zassimova dreht sich zu dem Teil des Publikums, das seitlich vom Bühnenpodest sitzt.
Schlussapplaus: Anna Zassimova dreht sich zu dem Teil des Publikums, das seitlich vom Bühnenpodest sitzt. © Peter Wieler | PETER WIELER

Zassimova erreicht sie in der globalen Parallelwelt von Claude Debussy, in der märchenhafte Pagoden aus Pentatonik gebaut sind, sich Orient und Okzident im abendlichen Granada vereinen und der Regen so warm und lebenspendend ist, das nicht nur die musikalischen Gärten erblühen, sondern sich die Klänge geradezu aus dem Flügel ergießen. Derart erquickt geht man in die Pause.

Zassimova spielt Fragmente von Schuberts Sonate

Schuberts Versuch, in seiner Sonate fis-moll mal so zu klingen wie sein großes Idol Beethoven ist eigentlich kaum der Rede wert. Man kann dem Schlusssatz in Gedanken den 3. Satz der Mondscheinsonate unterlegen und der Bonner gewinnt bei jedem Motiv.

Zassimova interessiert etwas völlig anderes: Franz Schuberts Ecksätze blieben unvollendet und die Musikwissenschaftlerin präsentiert sie – im Gegensatz zu anderen Pianisten, die die fehlenden Reprisen nach den Regeln der Sonatensatzform formal korrekt ergänzen – genau so, wie sie im Urtext Fragment bleiben: „Darin liegt auch eine künstlerische Wahrheit“, so Zassimova. Und mit diesem Gefühl des gewaltsamem Herausgerissenwerdens geht es in die Saderazki-Sonate, den ersten, aufgewühlten Satz, in dem die Erinnerungen an Schönes noch aufzusteigen vermögen – eine Analogie zum ersten Teil des Abends.

Besucher belohnten Konzert mit viel Applaus

Was folgt, nennt Saderazki „Arie“ – es ist die pure Verzweiflung. Die Bässe ziehen alles nach unten, die Last erdrückt die Mittelstimme. Und was in den oberen Lagen erklingt, ist kaum mehr als deren Echo, der Gedanke an Hoffnung, der von der Realität eingeholt wird. Und alles, was durch diese Reibung aufgestaut wurde, entlädt sich als Wut im dritten Satz. Ist das die Komposition von Saderazki oder Zassimovas Interpretation, die einen nun derart erschüttert?

Es ist dunkel geworden in der Idylle von Schloss Gartrop, in dessen Alter Rentei die Pianistin mehrfach betonte, wie glücklich sie sei, eingeladen worden zu sein.

Und Trost spendet einmal mehr die Musik: Liszts Consolation Nr. 1 Andante con moto S171a: Verträumt. Romantisch. Entrückt in eine bessere Klang-Welt, beantwortet von brandendem Applaus.