Bürgermeister Dirk Haarmann erklärt im NRZ-Interview die Bedeutung des Vorhabens für die Stadt, geht auf einen umstrittenen Plan und mehr ein.

Herr Haarmann, auch 2022 galt es für die Stadt Voerde, Herausforderungen verschiedener Art zu meistern. Welche war aus Ihrer Sicht die am schwierigsten zu bewältigende und warum?

Das war für alle Beteiligten die besondere Situation, dass neben „dem Tagesgeschäft“ mehrere Krisen zeitgleich gemanagt werden mussten und müssen (Corona, Unterbringung von Geflüchteten, Energiemangellage und Vorbereitungen in der Krisenprävention). Dies hat alle Beteiligten in der Verwaltung im besonderen Maße gefordert.

Wie fällt Ihr Fazit für das vergangene Jahr aus städtischer Sicht aus?

Wir haben trotz der Vielzahl an Herausforderungen die Dinge ganz gut hinbekommen. Hervorzuheben ist dabei der einstimmige Ratsbeschluss zur Entwicklung des ehemaligen Kraftwerksgeländes. Gut war auch, dass das öffentliche Leben im Abklingen von Corona wieder ein Stück Normalität zurückgewonnen hat.

Eine enorme Baustelle innerhalb der Verwaltung ist die enge Personalsituation. Wie viele Stellen sind zurzeit insgesamt vakant? Und in welchen Fachbereichen ist es derzeit besonders eng?

In der Kernverwaltung sind derzeit zwölf Stellen vakant, die zurzeit über interne und externe Stellenausschreibungen sowie interne Umsetzungen nachbesetzt werden. Im Bereich der städtischen Kitas sind drei Stellen vakant. Zusätzlich wird derzeit noch eine Nachwuchskraft im gehobenen Dienst (Stadtinspektoranwärter/Stadtinspektoranwärterin) gesucht. Besonders eng ist es zurzeit in der Wohngeldstelle, im Bereich der Flüchtlingsbetreuung und im Architekten- bzw. Ingenieurbereich (Stadtplanung, Tiefbau und Gebäudemanagement) sowie in der Kita-Betreuung.

Dirk Haarmann, Bürgermeister der Stadt Voerde.
Dirk Haarmann, Bürgermeister der Stadt Voerde. © FUNKE Foto Services | Heiko Kempken

Voerde steht bei der Rekrutierung von Fachkräften nicht nur in Konkurrenz zur besser bezahlenden freien Wirtschaft, sondern auch zu anderen Kommunen. Warum ist der Wettbewerb für Voerde auch hier so schwer?

Uns geht es nicht anders als den meisten anderen Kommunen. Nahezu alle Bürgermeisterkolleginnen und -kollegen berichten von der gleichen Problematik. Der gesamte Arbeitsmarkt leidet unter dem Problem, dass die geburtenstarken Jahrgänge nun in den Ruhestand gehen und aufgrund der deutlich niedrigeren Geburtenraten der jetzt ins Berufsleben einsteigenden Jahrgänge einfach zu wenig Fachpersonal auf dem Markt verfügbar ist. Zusätzlich wird die Rekrutierung von Fachkräften dadurch erschwert, dass die Reichweite der Stellenausschreibungen deutlich abnimmt. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen orientieren sich zusehends in einem engen Umkreis zum häuslichen Umfeld und suchen dort geeignete Arbeitgeber.

In der Nachbarstadt Dinslaken bekommt die Bevölkerung die personellen Engpässe unmittelbar zu spüren: etwa im Bürgerbüro. Gibt es in Voerde ebenfalls Bereiche, in denen die Bürgerschaft die Folgen dessen erlebt?

Wartezeiten im Rathaus sind in Voerde nicht das Problem. Aktuell haben wir einen Bearbeitungsstau bei Wohngeldanträgen, wo wir massiv gegensteuern, zumal aufgrund der Wohngeldreform mit einer Flut von neuen Anträgen in 2023 gerechnet wird.

Wie steuert die Stadt Voerde bei der schwierigen Personalsituation, die sich unter anderem bremsend auch auf die Umsetzung von Investitionen auswirkt, gegen?

Wir haben bereits organisatorische Optimierungen im Gebäudemanagement vorgenommen, um bei den vorhandenen Architekten- und Ingenieurkräften die Kapazitäten für das Planen und Umsetzen von Bauprojekten zu stärken. Neben bereits erfolgten zusätzlichen Stellen im Tiefbau und im Hochbau habe ich der Politik bereits angekündigt, dass wir in 2023 weitere Stellen einrichten und besetzen müssen. Dies wird Thema im ersten Sitzungslauf 2023 sein. Daneben schreiben wir für vorrangige Projekte die Planungsleistungen aus.

Die Pläne für einen Logistikpark auf einer Fläche an der Alu-Hütte beschäftigte die Menschen im vergangenen Jahr in Voerde.
Die Pläne für einen Logistikpark auf einer Fläche an der Alu-Hütte beschäftigte die Menschen im vergangenen Jahr in Voerde. © FUNKE Foto Services | Markus Weißenfels


Ein kontrovers diskutiertes Thema in 2022 war die geplante Entstehung eines Logistikstandortes im Hafen Emmelsum. Kann ein solches Vorhaben angesichts des hohen Flächenverbrauchs heute noch als zeitgemäß bezeichnet werden – zumal im Umfeld viele weitere Flächen für diese Art der Nutzung (ein Stichwort: Westerweiterung Hafen Emmelsum) bereits in Vorbereitung oder in Verwendung sind?

Sowohl die Entwicklung des Bauleitplans für den „Logistikpark Hafen Emmelsum“ als auch für die Westerweiterung des Hafens stehen im unmittelbaren Kontext der rechtskräftigen Landesplanung (1. Änderung des Landesentwicklungsplans seit 2019 rechtskräftig) und Regionalplanung, die bezogen auf die Hafenentwicklung von der Stadt Voerde immer mitgetragen wurde. Es handelt sich auf beiden Planungsebenen um einen Bereich des sogenannten „landesbedeutsamen Hafens“. Die Gründung DeltaPorts im Jahre 2012 manifestiert sich aufgrund dieser Ausweisung. Die weiterhin bestehende enorme Nachfrage nach Logistikflächen ist ein Ergebnis des sich weiter verändernden Kaufverhaltens der Verbraucherinnen und Verbraucher. Dabei dient gerade die Entwicklung von Flächen mit Wasser- und Schienenanbindung der Entlastung des Verkehrsträgers Straße und damit auch dem Klimaschutz. Im Rahmen einer „zeitgemäßen“ Stadtentwicklung müssen bei jedem Vorhaben neben den bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen auch immer weitere Gesichtspunkte beleuchtet werden, wie zum Beispiel die Schaffung von Arbeitsplätzen und die bauliche Gestaltung des Vorhabens, welches zeitgemäß sicher das Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit in den Vordergrund rückt.

Voerde hat vor einigen Jahren den Klimanotstand ausgerufen. Die Bevölkerung ist für das Thema zum Teil hochsensibilisiert. Das zeigt auch der Protest gegen den geplanten Logistikpark in Emmelsum. Die abgespeckte Planung stellt da keinen Kompromiss dar. Wie kann die Stadt das ignorieren?

Die Stadt Voerde ignoriert dies keinesfalls. Hier zeigt sich ein ernstzunehmender Interessenkonflikt. Sowohl der Investor Greenfield als auch die Stadt Voerde haben die vorgetragenen Anregungen und Bedenken, insbesondere den Vorwurf des nicht mehr zeitgemäßen „hohen Flächenverbrauchs“ sehr ernsthaft diskutiert und die Konzeption wurde entsprechend angepasst (siehe Drucksache 17/294, 2. Ergänzung). Durch besondere Gutachten werden sowohl die Themen Eingriff in Natur und Landschaft als auch Verkehr sehr detailliert dokumentiert, analysiert und sachverständig bewertet. Ein Hauptanliegen des Protestes ist der Schutz der sogenannten Biotopflächen. Die nun vorliegende abgespeckte Planung lässt diese Flächen nahezu gänzlich unangetastet. Mit dem neuen Bebauungsplan sollen im Gegensatz zur jetzigen Situation die nicht gewerblich genutzten Teile dauerhaft geschützt werden. Dies ist im jetzigen Planungsstand nicht der Fall! All diese Aspekte müssen bei der weiteren Betrachtung ebenfalls berücksichtigt werden.

Warum ist es nicht möglich, das betroffene Gelände als Biotop zu belassen und bei gewerblichen Bauvorhaben auf bereits versiegelte Flächen zu schauen?

Die gesamten jetzigen Acker-, Grün- und Waldflächen sind planungsrechtlich nicht als solche geschützt. Sie liegen in einem rechtskräftigen GI-Gebiet (Gewerbe und Industrie). Der Status unterscheidet sich daher maßgeblich von einer als Freiraum bzw. als Wald festgesetzten Fläche. Bereits jetzt hat ein Eigentümer das Recht, die Fläche ohne naturschutzrechtlichen Ausgleich zu räumen und gewerblich zu nutzen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, über tragfähige Kompromisslösungen nachzudenken, zumal der Investor auf Drängen der Voerder Politik in den vergangenen Jahren mehrfach aufgefordert wurde, die Fläche endlich gewerblich zu entwickeln.

Angesichts des Klimawandels gilt es, auch Stadtentwicklung neu zu denken. Inwiefern ist die Stadt Voerde hier bereits unterwegs?

Ein Umdenken in der Stadtentwicklung zur Ausweisung neuer Flächenpotenziale sowohl für gewerbliche als auch wohnbauliche Flächen im Stadtgebiet folgt dem zeitgemäßen Grundsatz: „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“. Ein weiterer zukunftsweisender Meilenstein mit Blick auf zeitgemäße und nachhaltige Stadtentwicklung ist der aktuelle Prozess zur Neuaufstellung des „alten“ Flächennutzungsplans. Ein wichtiger Baustein ist hier die sogenannte Freiraum- bzw. Grünflächenplanung. Dem Tenor des Erhalts, Ausbaus und folglich der Vernetzung der „Grünstrukturen“ auf Voerder Stadtgebiet wird der Vorrang vor neuer raumgreifender Siedlungsentwicklung gegeben. Außerdem wurde in diesem Jahr in diversen Bauleitplänen zum Wohnungsbau und zur Entwicklung von gewerblichen Bauflächen dem Klimawandel durch rechtsverbindliche Festsetzungen Rechnung getragen. So zum Beispiel durch Festsetzungen zu Baumpflanzungen auf privaten Stellplatzanlagen und im öffentlichen Straßenraum, zur Bepflanzung von Vorgärten, zur extensiven Dachbegrünung und zu Einfriedungen aus Laubgehölzen. Weiterhin gab es Festsetzungen zur Solarenergienutzung auf Dachflächen, zur Versickerung von Niederschlagswasser und zu Maßnahmen gegen die Auswirkungen von Starkregen.

Diese Zeichnung wurde von RWE-Vertretern bei einer Informationsveranstaltung in Voerde gezeigt. Sie zeigt, wie das Kraftwerksgelände zukünftig genutzt werden soll.
Diese Zeichnung wurde von RWE-Vertretern bei einer Informationsveranstaltung in Voerde gezeigt. Sie zeigt, wie das Kraftwerksgelände zukünftig genutzt werden soll. © PR | RWE


Die Nutzung einer schon versiegelten Fläche kommt beim ausgedienten Kraftwerksgelände zum Tragen. RWE als Eigentümerin will aus der Industriebrache auf lange Sicht einen Standort zur Erzeugung von grünem Wasserstoff machen. Der Wunsch der Stadt auch nach Wohnbebauung an der Stelle ist komplett vom Tisch. Warum ist das Vorhaben aus Ihrer Sicht trotzdem ein großer Wurf für die Stadt Voerde?

Damit werden wichtige Weichen für die Entwicklung unserer Stadt gestellt, die weit über die rein wirtschaftliche Perspektive hinausgehen werden. Voerde wird einer der strategischen Standorte für die Energiewende und für den Aufbau von Wasserstoffkompetenz. Mit diesem Projekt bietet sich die Chance zur Entwicklung eines „Kompetenzclusters – Wasserstoff“ in Voerde.

Auch von der Ansiedlung weiterer Gewerbebetriebe auf dem riesigen Gelände ist nicht mehr die Rede, weil RWE nach eigenen Angaben für das Vorhaben das komplette Grundstück benötigt. Dabei braucht, wie Sie stets betonen, Voerde weitere Gewerbeflächen – was der Regionalverband Ruhr aber verneint. Wo sollen im Stadtgebiet weitere Ansiedlungen vonstatten gehen können?

Auf der nordöstlich gelegenen Teilfläche des Kraftwerksgeländes weist der Planentwurf Flächenpotenziale für weitere Unternehmen aus, die vorrangig im Wasserstoffsegment tätig sein sollten. Die allgemeinen Flächenkontingente im Stadtgebiet für Gewerbe sind nahezu ausgeschöpft. Lediglich am Kleinen Kiwitt im Gewerbegebiet Grenzstraße erfolgt die Ausweisung einer kleineren zusätzlichen Fläche. Da eine Entwicklung weiterer Gewerbeflächen nur noch unter Inanspruchnahme weiterer landwirtschaftlich genutzter Flächen möglich wäre, schließe ich dies aus. Mit der Neuaufstellung des Flächennutzungsplanes werden die entsprechenden Flächenkontingente – auch für Gewerbeflächen – der Zukunft behördenverbindlich festgelegt.

Der Abriss der alten Industriebauten und die Entwicklung des Kraftwerksgeländes sind einige der großen Themen in 2023 in Voerde. Welche Punkte stehen in diesem Jahr noch ganz oben auf der kommunalen Agenda?

Das sind insbesondere die anstehenden Bauprojekte und dahinter stehenden Planungen: unter anderem Kita Spellen und Grünstraße, Standortfindung für die neue Interimskita am Schulzentrum Süd, Neubau und Umzug der Otto-Willmann-Schule, Erweiterung der Astrid-Lindgren-Schule Spellen und der Grundschule Friedrichsfeld – alles Projekte, die uns mehrere Jahre beschäftigen werden. Ebenso stehen diverse Straßenbauprojekte an (zum Beispiel Alte Hünxer Straße, Bahnhofstraße). Die begonnenen Arbeiten zum Ausbau der Betuwe-Strecke lassen schon erahnen, welche Einschränkungen die Pendlerinnen und Pendler in den kommenden Jahren in Kauf nehmen müssen. Auch diese Maßnahme wird unsere Kapazitäten enorm binden. Daneben blicke ich mit großer Sorge auf die Entwicklung der städtischen Finanzen.

Was treibt Sie angesichts der andauernden Krisen mit Blick auf das neue Jahr am meisten um?

Die vielen kriegerischen Auseinandersetzungen auf der Welt – nicht nur in der Ukraine – sowie die massiven Auswirkungen des Klimawandels werden unsere Welt mit all ihren Folgewirkungen nachhaltig verändern. Wir dürfen als Gesellschaft in Deutschland und in Europa den Zusammenhalt nicht verlieren und müssen an der Stabilität unserer Demokratien arbeiten, denn nur so haben wir eine Chance, die vielen aktuellen Krisen zu meistern und die Welt für zukünftige Generationen besser zu machen.

Woraus ziehen Sie persönlich Zuversicht?

Aus der Erfahrung, dass man mit einer positiven Grundeinstellung am besten in der Lage ist, auch große Herausforderungen zu meistern, sowie aus der Erkenntnis, dass viele Menschen genauso denken. Die große Hilfsbereitschaft in unserem Land in Situationen, in denen es darauf ankommt, zeigt mir, dass wir die Kraft haben, auch schwierige Dinge anzugehen.

Was ist – zum einen als Bürgermeister der Stadt Voerde, zum anderen als Privatmensch – Ihr größter Wunsch für 2023?

Als Bürgermeister der Stadt wünsche ich mir, dass wir die an uns gestellten Herausforderungen gemeinsam zu guten Lösungen führen werden, dabei einander zuhören und den Weg des fairen Dialogs beibehalten. Als Privatmensch stehen für mich Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen auf dieser Welt an erster Stelle.