Voerde. Pastoralreferent Markus Gehling möchte das Schicksal der Nachfahren des früheren Spellener Dorfmetzgers Jakob Herz in das Bewusstsein rücken.

Nichts erinnert heute mehr an die einstige Existenz jüdischen Lebens in Spellen. Das Gebäude, das davon noch zeugen könnte, gibt es längst nicht mehr. Es stand dort, wo sich der Kirchenparkplatz der Gemeinde St. Peter schräg gegenüber dem Gotteshaus befindet. In jenem Gebäude betrieb Jakob Herz, der 1870 mit seiner Frau Sibylla nach Spellen kam, eine Metzgerei. Das Schicksal ihrer Nachfahren im Dritten Reich möchte Markus Gehling, Pastoralreferent der Pfarrei St. Peter und Paul, festhalten und in das allgemeine Bewusstsein rücken und so vor dem Vergessen bewahren. Die meisten von ihnen wurden von den Nazis ermordet. Keiner hatte in der NS-Zeit noch in Spellen gelebt.

Jakob Herz starb 1920, seine Frau Sybilla bereits 16 Jahre vorher. Ihr zweitjüngster Sohn Philipp hatte die Metzgerei der Eltern in Spellen übernommen und betrieb sie gemeinsam mit seiner Frau Paula bis 1921. Die beiden gingen mit ihren drei in Spellen geborenen Kindern Friedrich Jakob (Jahrgang 1907), Erich (geboren 1911) und Sybilla (1913) nach Neuss. Dort führten sie den Viehhandel des Vaters von Paula weiter und eröffneten eine Metzgerei. Den Betrieb in Spellen verpachtete die Familie Herz an einen Metzger aus Wesel, bevor sie ihren Besitz 1936 endgültig verkaufte.

Das Haus sei im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und gegen Ende der 1960er Jahre abgerissen worden, berichtet Gehling. Philipp Herz und seine Frau Paula gehörten zu den wenigen aus der lange in Spellen ansässigen Familie, die der Mordmaschinerie der Nazis entgingen. Ihnen gelang die Flucht aus Deutschland, sie emigrierten nach Argentinien. Die Eheleute folgten damit ihren beiden Söhnen. Die Familie ihrer in den Niederlanden lebenden Tochter wurde im Oktober 1942 nach Auschwitz deportiert. Sybilla und ihre beiden Kinder (vier und sechs Jahre alt) wurden unmittelbar nach der Ankunft ermordet, ihr Mann Frederik habe vermutlich bis Februar 1943 überlebt.

Das Thema der Judenverfolgung durch die Nazis beschäftigt Markus Gehling schon lange. Den Seelsorger treibt um, wie es damals möglich war, zu sagen, „Familien jüdischen Glaubens gehören nicht zu uns“, ihnen dürfe „alles angetan“ werden. „Das lässt mich Zeit meines Lebens nicht los“, sagt Gehling. Für ihn ist es ein Lebensthema, „an der Aussöhnung mitzuwirken“. Seine Recherchen über die Geschichte der Familie Herz aus Spellen sind ein Beitrag dazu. Gehling sucht in Online- und analogen Archiven, auf Gedenkseiten und auf Portalen zur Ahnenforschung nach Hinweisen, tauscht sich mit Menschen aus, die dem Weg anderer Angehöriger nachspüren. Und so finden sich immer wieder weitere kleine Puzzlestücke, die etwas mehr über die jüdische Familie erzählen.

Ermordet in Auschwitz

Über Joseph, den 1879 geborenen Sohn von Jakob Herz und seiner Frau Sibylla, hat Gehling in Erfahrung gebracht, dass dieser mit seiner Frau Bertha Rosa Loeb nach der Reichspogromnacht 1938 von Köln aus nach Roermond emigrierte. Dort tauchten sie unter. Joseph Herz und seine Frau Bertha Rosa wurden denunziert und 1944 aus den Niederlanden in das Vernichtungslager Auschwitz gebracht und dort nach der Ankunft ermordet.

Auch über Josephs ältesten Bruder hat der Pastoralreferent recherchiert: Georg Herz (Jahrgang 1871) lernte in Thüringen das Handwerk des Gerbers, ließ sich in Bocholt dann aber „als Obst- und Gemüsehändler nieder“. Dort heiratete er 1895 seine niederländische Frau Rieka. Mit ihr hatte er acht Kinder; Moritz, Philipp und Hermann starben im Kleinkindalter. Mit den Söhnen Louis, Jakob, Emil und Josef sowie der Tochter Sibilla zogen die Eheleute später nach Wesel und betrieben an der Goldstraße einen Obst- und Gemüsehandel. Von dort aus „flüchteten sie nach Maastricht, wo Rieka 1942 unter unbekannten Umständen verstarb. Bis auf Louis wurden alle Mitglieder der Familie dort inhaftiert und in Auschwitz oder Theresienstadt ermordet“, sagt Markus Gehling.

Auf einem der U-Boote, die vorne rechts auf der Postkarte zu sehen sind, war Louis Herz sehr wahrscheinlich eingesetzt.
Auf einem der U-Boote, die vorne rechts auf der Postkarte zu sehen sind, war Louis Herz sehr wahrscheinlich eingesetzt. © FUNKE Foto Services | Markus Joosten

Heimatforscher aus Bocholt fanden heraus, dass Louis in Berlin lebte, berichtet Gehling. Zeitzeugen hätten gehört, dass er mit einer „nichtjüdischen Frau verheiratet gewesen sei und daher keinen Judenstern tragen musste. In der Tat boten ,Mischehen’ bis etwa 1944 einen gewissen Schutz vor der Ermordung in einem Konzentrationslager“. Mit Hilfe des Bundesarchivs und einer „engagierten süddeutschen Ahnenforscherin“ sei es gelungen, „die Hochzeitsurkunde in Berlin aufzufinden und auch einige Informationen zum militärischen Dienst von Louis Herz zu bekommen“. Er war 1917 „als Heizer auf einem der wenigen deutschen U-Boote in Wilhelmshaven stationiert“. Louis Herz „gehörte also zum technischen Bordpersonal. Die Besatzung der U-Boote war außerhalb der Einsätze auf einem alten Kriegsschiff stationiert, das als Wohnschiff diente: Über die SMS Irene und ihren Einsatz im Pazifik sind einige Informationen im Netz zu finden. Schwieriger wird die Suche aber, wenn es um die Anschlussverwendung als Kasernenschiff ging“, erklärt Gehling.

Im Internet stieß er auf einige Feldpostkarten, die einen Bezug zu diesem Schiff hatten. Als er sich eine davon genauer ansah, stockte dem Seelsorger der Atem: Diese war ausgerechnet an den U-Boot-Heizer Louis Herz adressiert, geschrieben 1917 von „Lottchen“. Dabei handelte es sich offenbar um seine zukünftige Frau Anna Prinz aus Berlin-Kreuzberg. Die Entdeckung war für Gehling ein „großer Glücksfall“ – und es war für ihn „mehr als ein Zufall“, unter den vielen Tausend Karten im Netz ausgerechnet auf diese gestoßen zu sein und sich diese auch näher angeschaut zu haben. Schließlich war darauf kein Schiffsbild zu sehen, sondern ein Pfingstgruß mit Blumenmotiv.

Postkarte bestätigt Recherchen

Mit der Postkarte bestätigten sich die bisherigen Nachforschungen, „wonach Louis Herz im Ersten Weltkrieg auf einem U-Boot Dienst tat. Im Zweiten Weltkrieg gibt es Hinweise auf einen Einsatz als Hauptgefreiter in einer Werft-Kompanie in Norwegen, wo er sich offenbar einige Leistenbrüche zuzog und in Berlin ins Lazarett musste. In dieser Zeit nannte er sich Ludwig Herz, vermutlich, weil das eher ,arisch’ klang, erläutert Gehling. Für ihn ist es „eine außerordentlich interessante Lebensgeschichte von einem jüdischen Soldaten, der in Hitlers Wehrmacht die Verfolgung der Juden überlebt hat“.

Louis und seine Frau blieben in Berlin. Eines ihrer Kinder war, traumatisiert durch die NS-Zeit, in einer Psychiatrie – wegen „Hitler-Verfolgungswahn“, so hieß es.

„Louis starb in Zehlendorf und ist auf dem Waldfriedhof in Dahlem beigesetzt worden“, hat Markus Gehling jüngst herausgefunden.

Seine Recherchen über die Familie Herz dürften damit längst nicht beendet sein.

>>Andenken erhalten

Markus Gehling fände es bedauerlich, wenn das Andenken an die Familie Herz erlischt. „Die Spellener waren in der Metzgerei einkaufen“, erinnert er. Es sei wichtig, dass die Verbindungen „sichtbar bleiben“. Auch wenn zur Zeit des Nationalsozialismus’ keine Nachfahren von Jakob und Sybilla Herz – beide hatten sechs Kinder – mehr in Spellen gelebt haben, fände er es schön, wenn in dem Ort eine Erinnerungsstätte geschaffen würde. Die Verlegung von Stolpersteinen an der Stelle, wo dereinst die Metzgerei stand, kommt nach Einschätzung der Stadt Voerde nicht in Frage, weil „die unmittelbaren Voraussetzungen“ dafür nicht gegeben seien.

In der Beschreibung des Erinnerungsprojekts von Künstler Gunter Demnig heißt es, dass die Gedenktafeln, die in den Boden eingelassen werden, „möglichst vor der letzten selbst gewählten Wohnadresse“ der NS-Opfer liegen sollen.

Vorstellbar wäre aus Sicht von Markus Gehling, ein Kunstobjekt oder eine interaktive Tafel an dem Standort, wo sich ehedem die Metzgerei von Jakob und Sybilla Herz befand, aufzustellen: „etwas Sichtbares, das im Stadtbild bleibt“.