Arad. Patrice Perez ist Lehrerin in Dinslakens israelischer Partnerstadt Arad. Sie berichtet, wie die Menschen dort den Nahost-Konflikt erleben.

Wir sind diejenigen, die Glück haben. Wir werden nicht Tag und Nacht mit Raketen bombardiert, die um uns herum landen oder über uns fliegen auf dem Weg in eine andere Stadt. Wir hören das Donnern und Pfeifen nicht. Nur einmal hat uns eine Sirene um drei Uhr nachts aus den Betten gerissen und in die Schutzräume getrieben, mit pochenden Herzen und angestrengt lauschend, ob etwas in der Nähe landet. Wir haben Glück.

Wenn die Angst den Schlaf raubt

Aber wir kleben an den Nachrichten, von morgens bis abends, und wenn wir versuchen zu schlafen, wirbeln Bilder und Warnungen und Drohungen der Hamas durch unsere Köpfe. In manchen Nächten ist es unmöglich einzuschlafen. Das Bellen der Hunde weckt mich, ich mache mir Sorgen, was draußen passiert.

Nicht weit von uns entfernt in Israel gab es schreckliche Proteste und viel Gewalt. Unsere schöne neue Autobahn 31 wurde durch brennende Reifen, Steinblöcke und Vandalismus zerstört. Das ist die einzige Autobahn, die nach Arad führt. Für ein paar Tage waren wir völlig vom Rest der Welt abgeschnitten und mussten feststellen, dass wir nirgendwohin fahren konnten. Keine Waren kamen in Arad an, niemand konnte heraus. Ich musste mit dem Krankenwagen über die Autobahn 31 zum Krankenhaus nach Beersheva, und ich hatte Angst. Für den Rückweg fand ich keinen Taxifahrer, der der mutig genug war, mich zu fahren. Aber wir sind diejenigen, die Glück haben.

Patrice Perez vor dem Partnerschafts-Schaukasten der Schule in Arad.   
Patrice Perez vor dem Partnerschafts-Schaukasten der Schule in Arad.   © Privat

Menschen, die 40 Kilometer weiter leben, haben kein Glück. Sie werden von Raketen, Splittern und Protestierenden getroffen, verletzt und getötet. Es ist sehr beängstigend. Alte Menschen sterben, weil sie sich beeilen, in einen Schutzraum zu kommen und auf dem Weg stürzen. Kinder sterben, weil sie in ihrem Zuhause von Splittern getroffen werden.

Jede Klasse hat einen eigenen Schutzbereich

Also haben wir noch Glück. Bisher hat es Arad nicht getroffen. Ich arbeite an der High School als Englischlehrerin. Wir haben geübt, wie man Schutz sucht. Jede Klasse hat einen zugewiesenen sicheren Bereich innerhalb der Schule. Stellen sie sich 1000 Schüler vor, die alle durch die Schule rennen!

Ich habe vergessen zu erwähnen, dass jedes Gebiet in Israel eine festgelegte Zeit hat, um in den Schutzraum zu gelangen, bevor die Raketen einschlagen. Je näher man dem Gazastreifen ist, desto kürzer ist natürlich die Zeit. Die Menschen in den Gebieten rund um Gaza haben 15 Sekunden. In 15 Sekunden kann man nicht viel tun oder weit kommen, vor allem als Familie mit Kindern oder in einer Schule. Wir haben also wieder Glück – wir befinden uns außerhalb der 40-Kilometer-Zone, sodass wir 90 Sekunden Zeit haben, um in den Schutzraum zu gelangen.

Schüler haben 90 Sekunden, um ihr Leben zu retten

Das ist kein gutes Gefühl. 90 Sekunden, um mitten in der Nacht aufzuwachen, aus dem Bett zu steigen, zwei Treppen hinunterzugehen und sich im Schutzraum zu verbarrikadieren. 90 Sekunden für 1000 Schüler, um ihre Klassenzimmer zu verlassen, in die Schutzräume zu gelangen und sich dort zu verbarrikadieren. Wenn Raketen fliegen, spielt die Religion keine Rolle, wir sitzen alle im selben Boot. Den Raketen ist gleichgültig, wie religiös jeder von uns ist. Gleiches gilt für die Hautfarbe oder das Glaubensbekenntnis. Wenn wir von Raketen getroffen werden, sind wir alle gleich.

Morgen gehen wir wieder zur Schule und versuchen, uns normal zu verhalten und Unterricht zu geben und so zu tun, als wären wir nicht verängstigt, besorgt oder aufgebracht angesichts dessen, was um uns herum passiert.

„Wir haben Glück, wir können morgen zur Schule gehen“

Israel ist ein kleines Land, also habe ich Freunde in Beersheva, in Ashdod, in Tel Aviv. Ich habe Ex-Schüler im ganzen Land, einschließlich der Gebiete in der Nähe von Gaza. Ich habe Lehrer, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet habe, die ihre Erlebnisse auf Facebook teilen, um mit dem Stress und der Belastung in diesen schrecklichen Tagen fertig zu werden. Wir haben Kinder, Studenten und Familienangehörige bei Armee und Polizei, in Krankenhäusern und beim Roten Kreuz, die an ihre Belastungsgrenzen stoßen.

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Aber wir haben Glück, wir können morgen wieder zur Schule gehen. Es gibt viele Gebiete, in denen dies nicht geht, weil es viel zu gefährlich ist. Die Gemeinde hat Anfang dieses Jahres das Schwimmbad vorzeitig eröffnet. Wir haben viele Familien aus den betroffenen Gebieten aufgenommen, Sonderregelungen sollen ihnen die Teilnahme an Aktivitäten ermöglichen, um diese angespannten und nervenaufreibenden Tage und Nächte zu überstehen.

„Es gibt Orte, an denen Familien kein Essen mehr haben“

Ich hoffe und bete, dass wir weiter Glück haben und uns in Arad keine Raketen erreichen. Ich hoffe und bete, dass die Raketen aufhören und das Leben irgendwie wieder normal werden kann. Oh, Moment. Was ist noch gleich normal? Wir tragen immer noch Masken in Schulen und beim Einkaufen, aber zumindest können wir einkaufen gehen, wir haben Glück, hier in Arad.

Es gibt Orte, an denen Familien kein Essen mehr haben, weil sie ihre Häuser zehn Tage lang nicht verlassen konnten. Irgendwie versuchen wir, ihnen Nahrung zu bringen, aber es ist gefährlich, sich in diesen Gebieten zu bewegen.

Das Raketenabwehrsystem, der Iron Dome, leistet hervorragende Arbeit, aber er erwischt nur 90 Prozent, was bedeutet, dass 10 Prozent durchkommen. Einige dieser Raketen landen in bebauten Gebieten, zerstören Straßen, Autos, Häuser, Schulen, Wohnhäuser, Spielplätzen: Dann fliegen Splitter, es gibt eine Explosion, der Aufprall ist tödlich. Ich bin dankbar, in Arad zu sein. (Übersetzung: aha)

Patrice Perez ist Lehrerin an der High School in Dinslakens Partnerstadt Arad. Das Theodor-Heuss-Gymnasium pflegt seit 1997 einen Austausch mit der High School. Patrice Perez hat diesen mitgegründet.