Dinslaken. Cesare Siglarski singt in der leeren Innenstadt gegen die Pandemie an. Wir haben ihn gefragt, warum er das macht. Und Geld ist nicht der Grund.
Gitarrenklänge wehen durch die Neustraße. Es ist mittags, die Sonne scheint. An einem solchen Tag wäre die Innenstadt voll: Menschen mit Einkaufstaschen wären unterwegs, darin vielleicht schon die ersten Frühlingsklamotten, Kinder würden das erste Eis des Jahres schlecken, die Außentische am Café wären belegt. Ein Hauch von Frühling und dazu die Straßenmusik. Einfach schön. Aber es ist Corona. Die meisten Geschäfte und Cafés sind verriegelt, die Neustraße ist fast leer. Nur die Sonne strahlt. Und Cesare Siglarski, der einsame Straßenmusiker mit Hut und Maske, singt aus vollem Herzen gegen die Pandemie an.
„Schön, in der ganzen Tristesse“
Cesare ist vor den brütenden Tauben nebenan unter das Vordach des verlassenen Bröker-Ladenlokals geflüchtet. Er steht vor den kahlen Schaufensterscheiben und spielt „Fields of Gold“: Getreidefelder aus Gold, die sich im Sommerwind wiegen. Ein Lied von Glück und Liebe, vom unbeschwerten Leben, früher, als noch alles gut war. Ach ja.
Ein Mann bleibt stehen und legt eine Münze in den Gitarrenkoffer. Die Augen über der Maske lächeln ein wenig müde. „Schön“, sagt er, „in der ganzen Tristesse.“ Ob er sich ein Lied wünschen möchte? Der Mann überlegt, ein Songtitel fällt ihm gerade nicht ein. „Etwas Fröhliches“, schlägt er vor. Cesare singt „Let it be“ von den Beatles. Die Augen lächeln wieder. Der Mann hört sich das ganze Lied an.
Nein, es geht nicht um Geld
Den Gitarrenkoffer hat Cesare extra weit von sich weg abgelegt. „Wegen des Hygieneabstands“, sagt er. Und wer soll schon darüber stolpern? Viel liegt noch nicht darin, ein paar Eurostücke auf rötlichem Stoff. Aber um Reichtümer geht es hier ohnehin nicht.
Außerhalb von Corona ist der 31-Jährige fast so etwas wie der Dinslakens Stadtmusikant. Er organisiert die sehr erfolgreiche Acoustic-Lounge im Sommer am Tenderingssee und im Winter im Dachstudio der VHS, Live-Auftritte von Musikern in der Weinbar, bei Schnierstrax und eine Zeitlang für den Feierabendmarkt.
Unzählige Macken und die frisch runderneuerten Bünde seiner Gitarre erzählen von seinem bewegten Musikerleben. Jeden Sommer ist der Dinslakener auf Club-Tour in Europa: Malta und Portugal etwa. Und „nebenbei mache ich immer Straßenmusik“, sagt er. In der Fußgängerzone, in Dinslaken, Wesel, Bottrop. Live-Musik, das ist „Austausch“ für ihn mit den Menschen in den engen Bars und vollen Straßen.
Straßenmusiker im Homeoffice
Als Corona vor einem Jahr den Kreis Wesel erreichte, machte Cesare Siglarski Straßenmusik im Homeoffice. „Digitale Straßenmusik“ nannte er das Konzept und statt eines Gitarrenkoffers gab es eine Bankverbindung. Das Geld leitet er anteilig noch notleidendere Künstler oder Gastronomen weiter. Vor dem „richtigen Lockdown“ seit Dezember, wie er es nennt, sang er Oldies vor Seniorenheimen, gab für die Rockschule Hamminkeln Workshops für Jugendliche. Die staatliche Hilfe, die er bekommen hat, konnte er so zum Teil schon zurückzahlen. Mittlerweile ist die 47. Folge der „digitalen Straßenmusik“ auf Cesares Facebookseite online. Und Cesare Siglarski vermisst etwas.
Anfang Februar packt er deswegen seine Gitarre und macht erstmals wieder Straßenmusik in der fast menschenleeren Dinslakener Innenstadt. „Ich wollte wenigstens ein bisschen Live-Feeling erleben“, sagt Cesare. „Gespenstisch“ empfindet er anfangs die Stille in der Neustraße. Aber er plaudert mit ein paar Händlern und mit Freunden, die zufällig vorbei kommen. Als er wenige Tage später in Wesel spielt, pöbelt ihn eine Anwohnerin an. „Die hatte Angst, dass Aerosole von hier unten bis auf ihren Balkon fliegen“, sagt Siglarski und schüttelt den Kopf.
Die Sehnsucht nach Unbeschwertheit
Die OP-Maske stört ihn beim Singen kaum noch, sagt Cesare. „Anfangs musste ich mich daran gewöhnen“, erzählt er, da hat sich die Maske ständig beim Singen aufgeblasen. Mittlerweile hat er die Atemtechnik darauf eingestellt. Und der Resonanzraum des leeren Ladeneingangs macht den Schalldämpfer im Gesicht wett. Jetzt hat er kurz mit dem Spielen aufgehört und hält das Instrument in der Hand. Gerade hat ihm eine ältere Frau erzählt, dass sie früher auch Gitarre gespielt hat. Cesare lächelt unter der Maske. Ein Bekannter humpelt vorbei, mit Krücken. „Achillessehne“ sagt er, Cesare winkt, singt weiter.
Die wenigen Menschen, die in der Stadt unterwegs sind, eilen in die Drogerie, zur Ausgabe im Bücherladen. Manchem zaubert die Musik ein Lächeln ins Gesicht. „Das ist für die Leute ein bisschen Normalität“, meint der Musiker.
Jeweils eine halbe Stunde spielt er, an drei Orten. Am Ende des Tages bringt er die paar Euro zur Bank. Aber darum geht es nicht. Nicht um Geld. Es geht um die Sehnsucht nach Glück und Unbeschwertheit, um die Zeit, als alles noch gut war: um „Fields of Gold“, Felder, die sich im Sommerwind wiegen, mitten in der pandemieleeren Dinslakener Innenstadt.
>> Hier gibt es „Digitale Straßenmusik“
Eigentlich wolle Cesare Siglarski Freitag in Köln Straßenmusik machen. Doch das ist dort mittlerweile verboten. Stattdessen gibt es eine neue Folge „Digitale Straßenmusik“ gemeinsam mit Pat Klijn – zu sehen und zu hören auffacebook.com/cesareacoustic.