Dinslaken. Gesamtschüler wären lieber anders geprüft worden. Sie fühlen sich als „Versuchskaninchen“ missbraucht und sorgen sich, Virus zu verbreiten.
Abiturienten aus Dinslaken kritisieren die Entscheidung der Landesregierung, den Schulbetrieb trotz Coronakrise ab Donnerstag langsam zu starten und die zentralen Abiturprüfungen durchzuführen: „Wir zweifeln extrem an der Fairness und der Realisierbarkeit der Maßnahmen“, schreiben die Abiturienten der Ernst-Barlach-Gesamtschule (EBGS) in einer Stellungnahme, die Schülersprecher Moritz Aniola, sein Stellvertreter Nils Josten und Q2-Stufensprecher Emir Aykan stellvertretend für die knapp 80 Abiturienten an der EBGS unterzeichnet haben.
Demnach hätten viele EBGS-Schüler nicht die Möglichkeit, am Unterricht teilzunehmen, „da sie selbst gefährdet sind oder ihre Eltern und Großeltern nicht gefährden möchten oder dürfen. Wir stellen uns die Frage, ob es fair ist, dass wir Schüler vor die Entscheidung gestellt werden, entweder gut auf das Abitur vorbereitet zu werden oder das Risiko in Kauf zu nehmen, uns zu infizieren.“ Die EBGS-Abiturienten fühlen sich von der NRW-Landesregierung „übergangen und ignoriert“. Wie sie schreiben, werde weder auf die Forderungen der Landes-Schülervertretung noch auf die der Lehrer- oder Elternverbände eingegangen, die alle dasselbe zum Ziel gehabt hätten: eine Absage der Abiturprüfungen.
Für die Schüler ist unverständlich, „wie die Durchführung der Abiturprüfung wichtiger sein kann als eine noch größere Eindämmung des Virus“. Sie hätten zwei Drittel ihrer Leistungen bereits erbracht, die Lehrer kennen sie und könnten sie gut einschätzen. „Wir sind überzeugt davon, dass es andere, faire und gerechte Möglichkeiten gegeben hätte, uns zu prüfen“, sagt EBGS-Schülersprecher Moritz Aniola im NRZ-Gespräch. Durch den eingeschlagenen Weg aber werde das Ungleichgewicht verstärkt.
Abiturienten mit kranken Eltern und Großeltern leiden sehr unter der Situation
Gerade die Abiturienten, die selbst eine Vorerkrankung oder aber Verwandte haben, die zur Risikogruppe zählen, leiden sehr darunter, nun entscheiden zu müssen, ob sie wieder zur Schule gehen. Das schildert etwa die 19-jährige Tiziana, die lieber ohne Nennung des Nachnamens von ihrer Situation erzählen möchte. Sie lebt mit ihren Eltern, die aufgrund von Krebserkrankungen beide Risikopatienten sind. „Das Risiko, in die Schule zu gehen, möchte ich nicht eingehen“, sagt sie. Auch ihren Eltern sei das lieber. Tiziana empfindet das Vorgehen der Landesregierung als „absolute Frechheit“. Die getroffene Entscheidung sei „rücksichtslos“.
Die 19-Jährige fühlt sich derzeit nicht gut auf die Abi-Prüfungen vorbereitet, „ da ich zuhause auch teilweise meine Eltern betreuen muss und demnach kaum Zeit habe, mich selbst vorzubereiten“, erzählt sie. „Trotzdem versuche ich, die Angst zu verdrängen, und setze mich, so gut es geht, an den Schreibtisch und lerne, doch meistens bleibt nichts hängen, da mein Kopf mit anderen, wichtigeren Dingen voll ist.“
„Durch die Politiker indirekt in einen Zwiespalt geschubst“
Anders als Tiziana entscheiden und den Unterricht „mit hoher Vorsicht“ wohl wahrnehmen wird hingegen eine 19-jährige Mitschülerin, deren Mutter an Asthma erkrankt ist, und die ihren Namen nicht in der NRZ lesen möchte. „In Kauf will ich das Risiko zwar nicht nehmen, aber das Problem ist, dass wir durch die Politiker indirekt in einen Zwiespalt geschubst werden: Wenn ich nicht zum Unterricht erscheine, versäume ich den Lernstoff; wenn ich hingehe, gefährde ich meine Familie“, erzählt sie.
Sie beschäftigt derzeit „ganz besonders, dass wir Schüler, trotz Petitionen und diverser anderer Formen von Protesten, ignoriert werden“. Stattdessen würden diesjährige Abiturienten „regelrecht wie Versuchskaninchen verwendet“. Sie kann nicht verstehen, „wie eine Prüfung, ohne die es auch möglich wäre, die Endnote zu ermitteln, wichtiger sein kann als so viele Menschenleben“.
„Wie eine Art Versuchsprojekt in die Schule geschickt“
Zehra, die unter anderem mit ihrer unter einer Vorerkrankung leidenden Oma zusammen lebt, tendiert dazu, mit „höchster Vorsicht“ in die Schule zu gehen. „Ich will das Angebot nutzen, um mich mit meinen Lehrern zusammen auf die Prüfungen vorzubereiten, da ich denke, dass die Arbeitsatmosphäre so eine viel bessere ist als über E-Mails und andere Kommunikationsmittel“, sagt die 18-Jährige. Rückhalt habe sie von ihrer Familie erhalten. „Ihr ist es sehr wichtig, dass ich die Chance auf faire Bedingungen habe.“ Auch sie fühlt sich von der Politik jedoch „wie eine Art Versuchsprojekt in die Schule geschickt“.
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EBGS-Abiturientin Ceren kann nicht verstehen, „dass die Schulen für die Abschlussklassen öffnen, da alle anderen Regelungen gegen das Virus weiterhin gelten“. Die 18-Jährige, deren Vater und auch Großeltern zur Risikogruppe zählen, plant, „erstmal in bester Ausrüstung in die Schule zu gehen“. Dort wolle sie dann schauen, inwiefern es wichtig ist zu bleiben oder „ob ich es auch von zuhause aus erledigen kann“.
>> THG-Abiturienten sind froh, dass die Prüfungen stattfinden
Während die befragten EBGS-Abiturienten am liebsten ein Durchschnittabitur gehabt hätten, vertritt Jakob Vahnenbruck, Abiturient und Schülersprecher am THG (Theodor-Heuss-Gymnasium), eine andere Meinung. „Zum Großteil sind alle froh, dass die Prüfungen stattfinden“, sagt der 18-Jährige. „Das Abitur 2020 wird aufgrund der aktuellen Situation sowieso immer ein besonderes sein. Von daher haben wir uns kein Durchschnittsabi gewünscht, weil wir die Sorge gehabt hätten, dadurch noch stärker benachteiligt zu sein“, sagt er.
Auch den THG-Schülersprecher stört es aber, „dass unsere Stimmen von der Politik überhaupt nicht gehört wurden“. Anstelle der zentralen Prüfungen hätte seine Stufe sich lieber dezentrale gewünscht. „Damit hätte ich mich wohler gefühlt“, sagt Vahnenbruck. „Aber es hilft jetzt nicht, da groß rumzumeckern. Entscheidung ist Entscheidung.“
Er werde ab Donnerstag wieder in die Schule gehen, „da ich dort einfach viel besser lernen kann und mich auch auf den Austausch freue“. Für Schüler, die Bedenken hätten, zur Schule zu kommen, suche man derzeit nach einer Lösung. „Wir überlegen, ob wir die vielleicht über Video zuschalten können“, erzählt er.