Dinslaken. Jan Klare und sein Quintett erzählten in einem Jazzkonzert die Geschichte Afghanistans und Kambodschas anhand ihrer wechselnden Nationalhymnen.

Afghanistan, Syrien, Kambodscha. Beim Klang dieser Namen schwingen Krieg und Instabilität mit. Die gewaltsam wechselnden Machtverhältnisse haben tiefe Wunden in diese Länder, deren Menschen und deren Kultur geschlagen und hinterlassen Narben. Hat das etwas mit Musik zu tun? Jan Klare verfolgt mit seinem Projekt „1000 Anthems“ einen ungewöhnlichen Ansatz. Er spürte der wechselvollen Geschichte von Krisengebiete nach, in dem er die Hymnen der jeweiligen Regime aufspürte und zur Grundlage experimenteller Kompositionen und Improvisationen machte. Am Freitag erlebten die Jazzfreunde in Dinslaken im Ledigenheim Lohberg diesen ungewöhnlichen musikalischen Ansatz.

Musiker saßen in der Mitte des Saals

Die Musiker spielten im Ledigheim rein akustisch und saßen sich zugewandt.
Die Musiker spielten im Ledigheim rein akustisch und saßen sich zugewandt. © NRZ | Bettina Schack

Aber nicht nur die Musik - „wir sind für die Konzertreihe hier wahrscheinlich eine schräge Gruppe“ meinte Klare nach der Pause - war an diesem Abend anders. Der Saxophonist und Klarinettist, Bart Maris (Trompete), Elisabeth Coudoux (Cello), Wilbert de Joode (Kontrabass) und Frank Rosaly (Schlagzeug) spielten rein akustisch und saßen einander zugewandt in der Mitte des Saals, die Sitzreihen waren ihnen von allen vier Seiten aus zugerichtet.

Thomas Termath lud das Publikum zu Beginn ein, in der Pause die Plätze zu wechseln, damit man jeden der Musiker auch einmal von vorne sehe. Das Konzept wirkte sich auch akustisch aus, die Instrumente klangen trockener, da sie weder durch einen digitalen Hall noch durch eine ausgeklügelte Saalakustik verstärkt wurden. Der Teppich auf dem Boden und das Publikum zu allen vier Seiten wirkten eher noch schallschluckend.

Der Kontrabass wird zur Trommel

Und so war man ganz nah dabei, als das Quintett begann, die imperialistisch plärrenden Märsche zu demontieren, deren Stil wohl die Briten in Afghanistan hinterlassen hatten, als sie ihre Interessen dort gegen die Russen in drei Kriegen beanspruchten. Der Ton ist schroff, im Verlauf des Konzerts wird der Kontrabass zur Trommel, Elisabeth Coudoux schabt und schleift mit einem Bogen, dessen Haare zu beiden Seiten büschelweise herabhängen, über die Saiten und Frank Rosaly rasselt nicht nur mit Eisen- und Perlenketten, sondern traktiert sein Schlagzeug sogar mit einer Gabel.

Zerrissener Mix

Mut zur Melodie zeigte eine Hymne aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die gut und gerne auch ein deutsches Volkslied aus dem späten 18. Jahrhundert hätte sein können. Dann markieren russischen Klänge den Einmarsch der Sowjetunion.

In diesem aufgewühlten, zerrissenen Mix aus freiem, experimentellen Jazz und Fetzen und Musik, die die Hohlheit von Machtansprüchen mehr entlarvt als Substanz bietet, erlebt das Publikum die intensivsten Momente des ersten Sets. Die Taliban verboten alle Art von Musik. Die Musiker schweigen. Nur vom Kontrabass aus hört man ein leises, unspezifisches, beunruhigendes Grundrauschen.

Ein spannender, experimenteller Abend

Vergleichbar stark beginnt das zweite Set. Klare und seine Formation erzählen die Geschichte einer Flucht vor den Spannungen in der Heimat, die keine mehr sein kann, über den Weg zwischen Bangen und Hoffnung hin nach Europa, dargestellt durch die Hymnen der EU und ihrer Länder. Aber auch hier wird die Musik von Spannungen zerrissen: Wird Asyl gewährt?

Kambodscha. Der Hohn der Hymne der roten Khmer, die den Mord an zwei Millionen Menschen in abstoßend heiteren Dur überspielen will, geht unter die Haut. Doch folgt die klanglich schönste Passage des Abends. Als Jan Klare seiner Ditze, der chinesischen Bambusquerflöte, weiche, singende Töne entlockt.

Kein leichtes Konzert, aber ein spannender, experimenteller Abend fünf hervorragender internationaler Musiker, die die Instrumentalisierung von Melodie und Rhythmus auf eine ganz eigene Art zu verdeutlichen und zu hinterfragen.