Dinslaken. Arnold Wilmschen aus Dinslaken führte in Bergen-Belsen die Totenbücher. Möglicherweise ist er im Lager auch Gefangenen aus Dinslaken begegnet.
Für die Filmaufnahmen hört der junge Mann kurz auf, die Leichen auf den Laster zu werfen. „Heute ist der 23. April 1945. Ich bin der Unterscharführer Arnold Wilmschen aus Dinslaken am Niederrhein. Ich bin zwei Jahre in diesem Lager“, sagt er in die Kamera. Das Lager – das ist das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Der Dinslakener SS-Mann war dort unter anderem für die Registratur zuständig: Er hat die Todeslisten geführt. In Bergen-Belsen sind über 50.000 Menschen gestorben. Auch aus Dinslaken waren Gefangene dort, zeitgleich mit Wilmschen. Fred und Edith Spiegel etwa, Juliane Cohen, die Schwägerin von Jeanette Wolff, und Familie Herz. Möglicherweise sind sie sich sogar begegnet.
Als die Briten das Lager Mitte April 1945 befreit haben, lagen dort etwa 17.000 Tote – auf Leichenhaufen gestapelt oder auf dem Boden, an der Stelle, wo sie gestorben waren. Hunger, Typhus und Fleckfieber haben allein im März 1945 insgesamt 18.000 Menschen dahingerafft – unter den Toten waren auch Anne Frank und ihre Schwester Margot.
Die Briten filmten das Grauen
„Die Zustände im Lager waren unbeschreiblich. Kein Bericht und keine Fotografie kann diese grauenvollen Bilder außerhalb der Baracken wiedergeben“, so wird der britische Arzt Glyn-Hughes zitiert, der als erster englischer Arzt im Lager eintraf. Die Briten versuchen es trotzdem. Sie filmen die Leichenberge. Sie zwingen die SS-Leute, die tausenden Toten zusammenzutragen und zu bestatten und filmen auch das. Sie interviewen die SS-Männer. Auf dem Boden rund um Wilmschen liegen dabei die toten Menschen. Die Aufnahmen sind im Bonner Haus der Geschichte und im United States Holocaust Memorial Museum zu sehen. Sie zeigen den 38-jährigen Wilmschen, der mit anderen Männern die nackten, ausgezehrten Leichen an Händen und Knöcheln packt und auf Laster wirft. Beine, Köpfe ragen aus dem Berg heraus.
Das war Arnold Wilmschen
Arnold Wilmschen, der am 7. Oktober 1907 in Moers geboren ist, lebte seit 1934 in Dinslaken – an der Adolf-Hitler-Straße 61, der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, neben der Synagoge. Er ist 1933 in die NSDAP eingetreten, hat 1937 in Dinslaken geheiratet, hatte zwei Kinder. Wilmschen war Optiker. 1941 kam er zur SS, war in den Konzentrationslagern Gusen/Mauthausen und Niederhagen/Wewelsburg. Als Wewelsburg aufgelöst wurde, wurde er mit der SS-Mannschaft von dort nach Bergen-Belsen versetzt.
Das Sterben in Bergen-Belsen
Das neue Lager sollte ein „Aufenthaltslager“ für Häftlinge sein, die man gegen Deutsche im Ausland eintauschen wollte – kein Vernichtungslager wie Auschwitz. Dennoch starben hier 50.000 Menschen – vor allem in den letzten Kriegsmonaten, als die Deutschen Gefangene aus Lagern nahe der Front nach Bergen-Belsen evakuierten.
Hier gab es keine Gaskammern. Aber die Häftlinge bekamen kaum oder gar kein Essen und Trinken, es gab keine sanitären Einrichtungen, die Menschen schliefen in zugigen Baracken auf dem Boden. Epidemien grassierten, viele Gefangene schafften es vor Schwäche nicht mehr zu den entfernten Latrinen. Der Hunger war so groß, dass es zu Kannibalismus kam.
Die Lager-SS war für diese Zustände verantwortlich, so David Reinicke von der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Sie unternahm nichts, um die Menschen am Leben zu halten – obwohl die Lebensmittellager bei der Befreiung voll waren. Aber sie registrierte die Toten. Das war Wilmschens Job. Er führte die Todeslisten. Später unterzeichnete er auch die Totenscheine. Einige davon sind erhalten. Außerdem war er für private Fotoarbeiten der SS-Leute zuständig und für Filmvorführungen, mit denen sich die Nazis inmitten des Sterbens vergnügten.
Das hat die politische Abteilung gemacht
Die Politische Abteilung, in der Wilmschen neben vier anderen SS-Leuten tätig war, war direkt dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt. Sie war dafür zuständig, die Papiere der Austauschhäftlinge zu überprüfen, und sie hatte im Vorfeld „direkten Kontakt mit den Häftlingen“, so David Reinicke. Also auch mit den „Austauschhäftlingen“ aus Dinslaken.
Die Abteilung hat 1943 und 1944 den Transport von insgesamt 2150 Gefangenen nach Auschwitz veranlasst: Sie kämen zum Austausch in ein Lager in Bergau, damit hat die SS den Menschen Hoffnung gemacht. Ein Lager Bergau gab es nie. Die Menschen wurden direkt nach der Ankunft in Auschwitz ermordet. Die Abteilung hatte ihre Austausch-Papiere beanstandet.
Austauschhäftlinge aus Dinslaken
Auch Ernst, Regina und Ellen Herz waren Austauschhäftlinge. Weil Familie Herz auf der „Palästina-Liste“ stand, wurden auch ihre Papiere durch die Politische Abteilung geprüft: 222 Häftlinge, die Himmler gegen Palästinadeutsche austauschen wollte, entkamen damit dem Inferno und wurden im Juni 1944 nach Israel gebracht.
Auch die Papiere von Juliane Cohen aus Dinslaken sind womöglich durch die Politische Abteilung gelaufen. Sie gehörte zu einem Transport von „bevorzugten Juden“, deren Waggons im September 1943 beim Transport von Westerbork nach Auschwitz in letzter Sekunde abgekoppelt und nach Bergen-Belsen umgeleitet wurden. Von dort allerdings wurde sie vier Monate später nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz in den Tod geschickt. Ihren Enkel lernte sie nicht mehr kennen. Ihre Tochter Ruth gebar den kleinen Leo Henri in Bergen-Belsen. Dort starb er im Januar 1945 im Alter von wenigen Monaten. Ob Wilmschen auch diesen Totenschein unterzeichnet hat, ist nicht herauszufinden. Bevor die Briten kamen, hat die SS die ganze Registratur des Lagers vernichtet.
Das sagte Arnold Wilmschen im Verhör
Nach der Befreiung des Lagers wurde Arnold Wilmschen ins Gefängnis Celle gebracht und verhört. Zwei Stunden lang haben die Briten Arnold Wilmschen am 23. Mai 1945 im Gefängnis in Celle verhört. Eine Abschrift des Verhörs liegt der NRZ vor.
Zwischen den Zeilen ist zu erkennen, dass die Vernehmer zunehmend ungehalten werden. Wilmschen will, was die Briten kaum glauben können, von den Zuständen im Lager nichts gewusst haben. Er habe zwar in dem Teil des Lagers, in dem die Häftlinge „gehalten“ wurden, gearbeitet – gegenüber der Entlausungsanstalt in der Nähe des Haupttores. Aber er habe nicht in das Lager sehen können: „Ich wusste nicht, wie die Situation im Lager war. Ich bekam nur die Liste der Toten.“
Mit seinen Kollegen habe er in der Nähe seines Arbeitsplatzes gewohnt, aber nie mit ihnen über das Lager geredet. Nur „manchmal roch ich einen Gestank, wenn der Wind aus der Richtung des Krematoriums kam“, sagte Wilmschen im Verhör. Der Autor Eberhard Kolb schreibt, dass die SS versucht hat, die Menschenberge draußen mit Holz und Diesel zu verbrennen. Der Gestank breitete sich kilometerweit aus.
Er habe lediglich jeden Tag die Namen der Toten in die Registratur-Bücher übertragen, sagte Wilmschen. Gezählt habe er die Toten aber nicht. „30 bis 50“ seien in etwa täglich gestorben. Nach Berechnungen von Kolb starben zwischen Januar und Mitte April 1945 dort 35.000 Menschen. Im April, so Wilmschen, habe er aufgehört, die Bücher zu führen. In seiner letzten Liste seien zudem nicht alle Toten verzeichnet: „Es waren zu viele.“
Das passierte nach dem Krieg
Drei Wochen nach dem Verhör, am 13. Juni 1945, starb Arnold Wilmschen im Krankenhaus Celle an einer Lungenentzündung. Die Witwe von Wilmschen führte noch viele Jahre an der Neustraße 19 in Dinslaken ein Optik-Geschäft. Das war möglich, weil ein anderer Dinslakener ihr einen „Persilschein“ ausgestellt hat: Heinrich Dickmann hat bescheinigt, dass Arnold Wilmschen keine Häftlinge gequält hat. Sie hatten sich im KZ Niederhagen/Wewelsburg getroffen: Heinrich Dickmann als Gefangener. Arnold Wilmschen als Täter.
>>Hintergrund und weitere Infos
Der Film der Briten in dem Arnold Wilmschen zu sehen ist, ist auf der Seite des United States Holocaust Memorial Museums abrufbar. Weitere Infos zu Bergen-Belsen gibt es u.a. in den Büchern von Alexandra-Eileen Wenck - sie erwähnt auch Wilmschen - (Zwischen Menschenhandel und Endlösung) und Eberhard Kolb (Geschichte des „Aufenthaltslagers“ 1943-1945)
Ganz besonderer Dank gebührt Anne Prior vom Verein Stolpersteine Dinslaken für die Unterstützung bei der Recherche.