Dinslaken. Eine Dinslakenerin (79) nimmt Cannabis auf Rezept zu sich. Der Genehmigung durch die Krankenkasse ging jedoch eine monatelange Odyssee voraus.

„Haste Haschisch in den Taschen, haste immer was zu Naschen“ – ein Spruch aus früheren Zeiten und ein Wunsch, den sich die 79-jährige Gisela Marschall heute erfüllen kann. „Dabei habe ich schon früher kein Hasch geraucht“, sagt sie und lacht. Stimmt, damals, als die Haschwelle Deutschland überschwappte, war Gisela Marschall bereits „zu alt für diesen Unsinn“. Dafür nimmt sie es heute – als sozusagen letzten Versuch.

Ihr Cannabis-Konsum hat allerdings einen medizinischen Hintergrund und den hat sie sich mühevoll erkämpfen müssen. Operiert am Beckenboden, an der Bandscheibe, belastet mit einer Pudendusneuralgie – die sich meist durch heftige Schmerzen im Genital- und Dammbereich äußert – und dem Restless-Legs-Syndrom – einer Art von Bewegungsstörung, die durch Missempfindungen und einen Bewegungsdrang in den Beinen und Füßen gekennzeichnet ist – leidet Gisela Marschall an „wahnsinnigen Schmerzen, die kaum noch auszuhalten sind“.

Therapie als letzter Strohhalm

Inzwischen gilt sie als schwerbehindert, kann sich nur noch mit dem Rollator vorwärts bewegen. Im Oktober 2018 greift sie zum letzten Strohhalm – der Cannabis-Therapie. Sie stellt einen Antrag bei ihrer Krankenkasse und wartet. Nach sechs Wochen kommt die erste Ablehnung, gegen den die Kranke sofort Widerspruch einlegt. Die Bescheide gehen hin und her. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) fordert Unterlagen an, die laut Krankenkasse erst im April diesen Jahres eingehen. Und wieder gibt es eine Ablehnung.

Cannabis, so heißt es, sei keinesfalls für jeden Patienten geeignet. Es könne dosisunabhängig starke Nebenwirkungen wie Halluzinationen, Panikattacken oder Psychosen auslösen und den Gesundheitszustand verschlechtern. Und bei Frau Marschall habe ein Arzt eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Nun, würde jetzt der geneigte Leser sagen, bei so vielen Erkrankungen ist das wohl auch logisch. Weit gefehlt – die psychische Erkrankung liegt Jahre zurück und ging auf den plötzlichen Tod ihres Sohnes zurück. Längst hat Frau Marschall damit abgeschlossen. Dennoch – die Weigerung besteht.

Genehmigung kommt per Telefon

Die NRZ schaltet sich ein, hakt nach – ein neues Gutachten wird erstellt und wieder wird die Cannabis-Therapie abgelehnt, um allerdings nur Stunden später per Telefon genehmigt zu werden. Denn, so schreibt nun die Krankenkasse, nach Rücksprache mit Marschalls Arzt, der sich für eine Cannabis-Therapie eingesetzt hatte, erkannte die Kasse endlich, dass das Rauschmittel nur gezielt gegen das Restless-Legs-Syndrom eingesetzt werden sollte. Dieses war nämlich bereits austherapiert und nichts habe geholfen. Nach einer monatelangen Odyssee erhält Gisela Marschall nun endlich ihr „Haschisch“.

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„Am Anfang war die Wirkung recht gut“, erzählt sie heute, da sie die Tropfen in Absprache mit ihrem Arzt abends nimmt, könne sie wenigstens durchschlafen. Ein paar Stunden schmerzfrei. Drei Tropfen nimmt sie derzeit täglich ein.

Cannabis: Ein großer Hoffnungsträger? Psychiaterin ist noch skeptisch

Am 10. März 2017 hatte der Gesetzgeber Cannabis als Therapie erlaubt. Ein Hype setzte ein. Viele Patienten haben auf Cannabis als Schmerzmedikament gesetzt. Die schmerzlindernde Wirkung von Cannabis sei jedoch im Gegensatz zu anderen Medikamenten, wie Opiaten, geringer.

Auch die Psychiaterin Dr. Barbara Florange, Chefärztin am St. Vinzenz-Hospital, sieht die Medikation mit Cannabis noch skeptisch. „Ein Arzt muss sorgfältig entscheiden, wem er diese Therapie empfiehlt“, sagt sie. Cannabis sei ein großer Hoffnungsträger, ob es aber die erhofften Erfolge erzielt, bliebe nun abzuwarten. Für ein abschließendes Urteil sei die Zeit seit Inkrafttreten des Gesetzes zu kurz. Allerdings bereite ihr die Gabe an jungen Erwachsenen Sorge. Eine latente psychische Erkrankung könne dadurch hervorgerufen werden.

Heilpflanze und Rauschmittel in einem

Hanf ist eine der ältesten Heilpflanzen der Welt, zugleich ist Cannabis aber auch ein Rauschmittel, das psychisch abhängig machen und schwere Nebenwirkungen auslösen kann. Als Therapie gibt es Cannabis beispielsweise als Blüten, die geraucht werden. Hier soll sich eine schnelle Wirkung erzielen lassen, die aber genauso schnell wieder verfliegt.

Bei Patienten mit Muskelverkrampfung, so die Krankenkasse in ihrem Bericht, sei der Einsatz eines Fertigarzneimittels anzuraten. Im Falle von Gisela Marschall waren zwar Blüten vom Arzt empfohlen, genehmigt wurde Cannabis allerdings als Dronabinol-Rezeptur. „Vielleicht ist das auch besser“, meint die 79-Jährige. „Da ich noch nie in meinem Leben geraucht habe, wüsste ich nicht einmal wie das geht.“

„Versuchskaninchen“ in eigener Sache

Sie ist sich inzwischen bewusst, dass sie ein Versuchskaninchen in eigener Sache ist. Da es noch keine erprobten und gesicherten Dosierungen gibt, die bei der Behandlung der unterschiedlichen Erkrankungen erforderlich sind, muss die Behandlung vorsichtig begonnen werden. Der Arzt-Patient-Kontakt ist hierbei sehr wichtig.

Daher fängt auch Gisela Marschall auf Anraten ihres Arztes mit einer geringen Dosis an, die gesteigert werden kann. Vorerst aber will sie mit der geringeren Dosis experimentieren. „Einen Rausch möchte ich nun wirklich nicht haben“, sagt sie. Denn selbst nach der Einnahme von drei Tropfen Cannabis sei sie tatsächlich etwas wacklig auf den Beinen.

>> BEI DIESEN ERKRANKUNGEN KANN CANNABIS BEISPIELSWEISE EINGESETZT WERDEN

  • Cannabis allein hat als Schmerzmittel nur eine sehr geringe Wirkung. Bevor Cannabis von den Kassen genehmigt wird, müssen alle anderen Therapien ausgeschöpft sein.
  • Eingesetzt werden kann Cannabis etwa bei Multipler Sklerose, bei Spastiken, bei der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen während einer Chemotherapie, beim Tourettesyndrom, bei HIV- und Aids-bedingter Appetitlosigkeit.
  • Wirklich belastbare Studien zur medizinischen Wirkung von Cannabis liegen jedoch noch nicht vor. Angebaut werden darf Cannabis allerdings auch zur Eigenmedikation – nicht im heimischen Garten oder auf dem eigenen Balkon. Das gibt es nur auf kassenärztliche Genehmigung in den Apotheken.