Dinslaken. Interview mit Dr. Michael Heidinger, der sich in der Initiative „Die wahre SPD“ engagiert. Er hält eine Neuausrichtung für dringend erforderlich.

Es steht wahrlich nicht gut um die SPD, schlechte Wahlergebnisse, der Rückzug von Andreas Nahles nach einem Jahr als Partei- und Fraktionsvorsitzende und ein Kevin Kühnert, der mit seiner Verstaatlichungsthese die Schlagzeilen bestimmte. Nun haben sich einige Sozialdemokraten aus NRW zur Initiative „Die wahre SPD“ zusammengefunden. Dazu gehört auch Dr. Michael Heidinger, seit 1986 Mitglied der SPD und seit vielen Jahren Bürgermeister in Dinslaken. Im Gespräch mit NRZ-Redaktionsleiter Michael Turek äußert er sich über seine Motivation, sich in der Initiative zu engagieren, und über die „wahre SPD“.

Was ist für Sie die „wahre SPD“?

Heidinger: Es gibt eine Initiative, die sich Gedanken macht, wie die Neuaufstellung der SPD laufen soll. Dieser Initiative sind die Debatten, die angestoßen worden sind, ein Stück weit zu einseitig. Diese Ansicht teile ich. Wir sind eine breit aufgestellte Partei und insofern ist es wichtig, dass auch Ideen, die einen anderen Ansatzpunkt verfolgen, als der, der momentan sehr prominent diskutiert wird, Einfluss in die Debatte finden. Den Begriff der „wahren SPD“ als Überschrift für die Initiative finde ich unglücklich. Den hätte ich so nicht gewählt. Denn er setzt Menschen herab, die sich auch Gedanken darüber machen, wie es mit der SPD weitergehen könnte. Das wollen wir nicht. Wir wollen aber einen offenen Diskurs.

Wieso engagieren Sie sich in der Initiative, die sich gegen eine Neuausrichtung der SPD wendet?

Heidinger: Wenn sich diese Initiative gegen die Neuausrichtung der SPD stellen würde, würde ich da nicht mitmachen. Ich halte die Neuausrichtung der SPD für dringend erforderlich. Aber wir haben andere Vorstellungen, wie diese Neuausrichtung aussehen soll. Wir glauben, dass es notwendig ist, die Partei breiter aufzustellen. Wir müssen die Frage beantworten, wo wir die Zukunft der SPD sehen: Wollen wir zu einer Nischenpartei werden oder halten wir den Gedanken der SPD als Volkspartei noch aufrecht. Ich würde letzteres gerne tun. Das funktioniert aber nur, wenn wir den erkennbaren Trend der Separierung von Gesellschaft nicht mehr mitmachen.

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Ich will diese unheilvolle Entwicklung an einem Beispiel deutlich machen. Wir haben uns daran gewöhnt, die Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger in unterschiedliche Gruppen zu trennen: Hier sind die Reichen, denen ich durch Steuern das Geld abnehme, da sind die nicht so gut Begüterten, denen ich gebe. Auf der Grundlage eines solchen Gesellschaftsbildes, das dann auch schnell zu den Kategorien „gut“ und „böse“ führt, kann keine Gemeinschaft entstehen. Ich verfolge deshalb einen ganz anderen Ansatz. Ich verstehe uns als eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Menschen leben, die alle ein Ziel eint: friedlich und in Wohlstand miteinander zu leben. In dieser Gemeinschaft leben Menschen, die starke Schultern haben, die viel tragen können, und wir haben Menschen, die schwache Schultern haben, die können nicht so viel tragen. Und mit dieser Maßgabe wünsche ich mir einen neuen Geist in unserer Gesellschaft, der das akzeptiert. Und in der sich jede/r darauf verlassen kann, dass alle ihren Beitrag entsprechend ihrer individuellen Fähigkeit leisten. Weil alle erkennen, dass nur so ein gemeinsames Leben in Frieden und Wohlstand möglich ist. Weil nur so ein Gefühl von Gerechtigkeit entstehen kann. Und weil nur so die SPD wieder zur Volkspartei werden kann: Wenn Menschen, die starke Schultern haben, bereit sind eine Partei zu wählen, die die Kraft der starken Schultern nutzt, um den schwachen Schultern die Unterstützung zu bieten, die sie brauchen, um ihren Beitrag zu einem solidarischen Miteinander leisten zu können. Da liegt die Chance der SPD: Wieder zu der Klammer in der Gesellschaft zu werden, in der jede/r erkennt, dass es ohne den jeweils anderen nicht geht.

Nach der Bundestagswahl wurde auch von Erneuerung gesprochen, aber passiert ist eigentlich nichts aus Ihrer Sicht?

Heidinger: Nein, zumindest sind die Dinge nicht angegangen worden, bei denen ich mir Erneuerungsimpulse gewünscht hätte. So hat es in der SPD keine Fortschritte bei dem zuvor beschriebenen Gesellschaftsmodell gegeben, in dem wir nicht die Gegensätze definieren, sondern das Gemeinsame betonen. Das heißt konkret auch, dass wir das Einstehen für Gemeinschaft durch das Abschließen von Gesellschaftsverträgen fördern. Das Abschließen von Gesellschaftsverträgen ist eine ursozialdemokratische Aufgabe: Wir wollen für Forderungen, die wir gesellschaftspolitisch für richtig erachten, nicht auf freiwilliger Basis werben, sondern wir wollen sie in Form von Gesellschaftsverträgen für alle verbindlich machen. Die Dienstpflicht ist da ein gutes Beispiel. Deren Einführung haben wir ja im Rat der Stadt Dinslaken bereits durch eine von einer großen Mehrheit getragene Resolution eingefordert. Diese Entscheidung ist gerade auch aus einer sozialdemokratischen Perspektive richtig. Wir wollen nicht, dass diejenigen, die sich dankenswerterweise noch in hoher Zahl ehrenamtlich engagieren, die Last alleine tragen. Wir wollen vielmehr, dass sich alle in ein solidarisches Gemeinwesen einbringen. Genauso wichtig ist, dass sich die SPD endlich wieder als eine wirtschaftskompetente Partei präsentiert. Das heißt auch, dass Maßnahmen, die im Rahmen des Primats der Demokratie beschlossen worden sind, auf marktwirtschaftlicher Grundlage und mit ökonomischer Effizienz umgesetzt werden. Denn nur, wenn in der SPD sozialpolitische, wirtschaftspolitische und umweltpolitische Kompetenzen zusammengehen, hat die SPD eine Chance, wieder in Schlagdistanz zum Kanzleramt zu kommen. Das lässt sich aus der Vergangenheit genauso wie aus aktuellen Entwicklungen ableiten.

Wieso ist die SPD noch eine Volkspartei, warum muss sie es bleiben?

Heidinger: Viele Gespräche, die ich tagtäglich mit Bürgerinnen und Bürgern führe, zeigen, dass es einen großen Bedarf nach einer sozialdemokratischen Volkspartei gibt: nämlich nach einer Partei, die die Politik des Verfolgens bzw. Optimierens von Einzelinteressen, gleichgültig, für welche Klientel, überwindet. Wir brauchen die Neuformulierung eines Gesellschaftsmodells, in dem sich sowohl die starken wie auch die schwachen Schultern wohl und gerecht behandelt fühlen. Eine sozialdemokratische Volkspartei muss in diesem Sinne dafür Sorge tragen, dass die Philosophie des Gebens und Nehmens neu ausformuliert und fein austariert wird, um von allen Beteiligten als sozial gerecht empfunden zu werden. Nur dann wird die SPD wieder die Zustimmungswerte erreichen können, die einer Volkspartei würdig sind.

Was sind die nächsten Schritte dieser Initiative?

Heidinger: Einig sind wir uns in der Ablehnung, dass die Neuaufstellung der SPD nicht einseitig und schon gar nicht nur aus einem Blickwinkel erfolgen darf. Ob es über die Ablehnung hinaus gelingt, eine gemeinsame Perspektive zu formulieren, muss im Rahmen der nächsten Treffen ausgelotet werden. Unabhängig vom Erfolg dieser Bemühungen bleibt es jedoch wichtig, dass überhaupt aus der Initiative heraus Impulse zur Neuaufstellung der SPD gegeben werden. Denn nur eine breite Aufstellung der SPD im Rahmen ihrer Neuaufstellung wird es ermöglichen, die Sozialdemokratie als Volkspartei wiederzubeleben.