Am Niederrhein. David gegen Goliath, SV Schermbeck gegen den Westdeutschen Fußballverband. Es geht um 15 Minuten, später bis zum Landgericht – Verband verliert.
Es ist Mitte März, eigentlich ein ganz normaler Montag vor mittlerweile elf Jahren. Kein verfrühter Frühlingstag, kein Wintereinbruch mit glatten Straßen und Mega-Staus. Johannes Brilo geht seinem Job als Architekt nach, in seiner Funktion als Fußball-Abteilungsleiter des SV Schermbeck wartet um 15.30 Uhr noch ein wichtiger Termin in Duisburg-Wedau. Vom Büro aus bricht er am frühen Nachmittag auf, die Unterlagen für das Lizenzierungsverfahren des NRW-Ligisten im Gepäck.
Doch er benötigt für die gut 45 Kilometer zwischen Schermbeck und Duisburg-Wedau länger als er veranschlagt hat. „Auf der Strecke, besonders der A3, war und ist immer zähfließender Verkehr“, sagt Johannes Brilo. Da hilft auch kein PS-starker Sportwagen aus Zuffenhausener Schmiede. So ist es auch an diesem Montag. Der Chef der SVS-Kicker verspekuliert sich, trifft erst um 15.45 Uhr in der Geschäftsstelle des Westdeutschen Fußballverbandes (WDFV) ein – 15 Minuten nach der Deadline. Die Sekretärin nimmt die Unterlagen zwar entgegen, aber wenige Tage später trifft ein Brief in Schermbeck ein, dass der SVS vom Lizenzierungsverfahren ausgeschlossen wird. Es beginnt ein gut viermonatiger juristischer Kampf zwischen David und Goliath – mit dem Happy End für David.
„Als ich die Unterlagen verspätet abgegeben habe, war mir überhaupt nicht klar, dass es solche Konsequenzen nach sich ziehen würde“, erinnert sich Johannes Brilo. Für den Verband sind die 15 Minuten jedoch ein klares Ausschlusskriterium. Für den SV Schermbeck nimmt ein Kampf an gleich zwei Fronten Fahrt auf. Das Team von Trainer Martin Stroetzel, der den Dorfverein innerhalb von fünf Spielzeiten von der Bezirksliga in die Oberliga geführt und auch die Qualifikation für die NRW-Liga gemeistert hat, steckt sportlich in der Bredouille. Juristisch sieht es aber noch weitaus übler aus.
SV Schermbeck betritt juristisches Neuland
Denn die Hoffnung des Fußball-Abteilungsleiters („Ich hatte wirklich gedacht, die drücken wegen einer Viertelstunde mal ein Auge zu“) zerschlagen sich schnell. Der damalige Coach nimmt die Hiobsbotschaft eher gelassen entgegen. „Ich hatte das nicht als Schocksituation empfunden und dachte, dass es schon irgendwie geregelt wird“, erzählt Martin Stroetzel, der heute in Diensten des Landesligisten SV Dorsten-Hardt steht.
Das passiert nicht. Nach der Nichtzulassung zur Lizenzierung und dem damit verbundenen Zwangsabstieg, so der Wille des Verbandes, trennt die SVS-Kicker nur ein mageres Pünktchen vom ersten Abstiegsplatz – und dies bei zwei mehr ausgetragenen Partien. „Das größte Problem war, die Mannschaft so zu motivieren, dass wir sportlich drin bleiben“, sagt der 54-jährige Stroetzel. Schwierig, aber möglich.
SV Schermbeck läuft sportjuristisch vor die Wand
Das juristische Problem scheint hingegen in die Kategorie unlösbar zu fallen. Rechtsanwalt Stephan Proff, damals wie heute Beisitzer in der Fußball-Abteilung, übernimmt die Aufgabe. „Im Nachhinein erinnere ich mich sehr gern daran. Das war totales Neuland, so einen Fall hatte es in Deutschland bis dahin nicht gegeben“, erläutert der Jurist. Zunächst werden vom Verein alle Instanzen der Sportgerichtsbarkeit ausgeschöpft. Immer mit einem identischen Ergebnis. „Da sind wir regelmäßig vor die Wand gelaufen“, sagt Stephan Proff.
Verband liegt dem Irrglauben „Flutwelle“ auf
So ergeht es dem heute 56-Jährigen und dem SV Schermbeck auch Anfang Mai – fünf Spieltage vor dem Saisonende – vor dem Verbandsgericht, der höchsten und letzten sportgerichtlichen Instanz. Lizenzentzug und Zwangsabstieg drohen nicht mehr – sie werden Realität. Die WDFV-Verantwortlichen, allen voran sein mittlerweile verstorbener damaliger Vizepräsident und Rechtsanwalt Walter Hützen, beharren auf der Deadline 15.30 Uhr und sehen bei einem Einlenken eine Flutwelle an Klagen auf sich zukommen. Eine Einschätzung, die sich selbst nach dem Urteil des Duisburger Landgerichts zugunsten des SVS als kompletter Irrglaube entpuppen sollte.
Selbst nach der Schlappe vor dem Verbandsgericht bleibt bei Martin Stroetzel ein Funken Hoffnung. „Irgendwie hatte ich nie den endgültigen Gedanken, wir sind jetzt weg“, so der Coach. Zumal der Gang vor ein Zivilgericht direkt nach dem vermeintlichen Aus schon beschlossene Sache war. Der Verhandlungstermin in Sachen „Einstweiliger Verfügung“ wird anberaumt, gut einen Monat nach dem Ende der Spielzeit treffen sich die beiden Parteien vor der 6. Zivilkammer des Landgerichts in Duisburg.
Team legt Erfolg auf dem Platz vor
Sportlich hat der SV Schermbeck mittlerweile den NRW-Liga-Klassenerhalt perfekt gemacht. Sieben Zähler aus den drei Partien nach dem vermeintlich endgültigen Aus am „grünen Tisch“ im Mai bringen die Rettung. „Das spricht für den SVS, dass wir trotz des Lizenzentzugs den Klassenerhalt als Bauernverein geschafft haben“, sagt Johannes Brilo im Rückblick. Damals habe ihn schon „sehr belastet“, dass er das dem Team eingebrockt hatte. Die juristische Auseinandersetzung ist aber längst nicht abgeschlossen, schon gar nicht entschieden.
Ordentliches Gericht zeigt Sportgerichtsbarkeit Grenzen auf
In der Kanzlei von Stephan Proff zerbrechen sich die Juristen den Kopf, „wie wir das Unmögliche noch möglich machen können“. Dabei ist dem Rechtsanwalt klar, dass fast alles von der Person des Richters abhänge. Und das Glück schlägt sich auf die Seite des SVS. Der Vorsitzende Richter Jan Behrmann folgt dem Verband zwar in allen juristischen Punkten, gewichtet aber die Verhältnismäßigkeit zwischen 15 Minuten Verspätung und Lizenzentzug stärker. Die „sportlichen und wirtschaftlichen Folgen“ seien unangemessen. Besonders da es sich um einen Amateurverein und Ehrenamtliche in der Führungsetage handele.
Auch interessant
Martin Stroetzel köpft nach der Verhandlung zusammen mit den Schermbeckern eine Flasche Sekt. „Wegen der 15-minütigen Verspätung nehmen wir Johannes Brilo immer noch hoch“, erzählt er. Der WDFV legt übrigens noch Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Das Oberlandesgericht schickt einen Hinweisbeschluss, der dem Verband keine juristische Chance mehr einräumt. Erst dann fügt sich der Verband in die Niederlage. „Da hat ein ordentliches Gericht der Sportgerichtsbarkeit ganz klar die Grenzen aufgezeigt“, so Stephan Proff.
Ach ja: Bei den noch zwei Lizenzierungsverfahren bis zum Ende der NRW-Liga wird Johannes Brilo immer pünktlich sein.