Am Niederrhein. Zu den unvergessenen Europapokal-Spielen zählt Bayer Uerdingens 7:3 über Dynamo Dresden, das 1986 auch eine überaus politische Brisanz hatte.

Der Fußball ist vor allem auch deshalb so beliebt, weil er immer ein von großer Emotion getragenes simples, aber herrlich diskutiertes Spiel bleiben wird. Welches Duell im Auge des Betrachters das beste, das aufregendste, das kurioseste sei, das je auf einem Rasen-Grün ausgetragen worden ist, liefert Stoff für lange Experten-Abende. In der Verlosung ist auch immer Bayer Uerdingens unvergessliches 7:3 über Dynamo Dresden vom 19. März 1986. „Das war ein Höhepunkt meiner Karriere, den ich nie vergessen werde“, betont Friedhelm Funkel. Der heute 66-jährige deutsche Rekord-Profifußballtrainer im Ruhestand mischte damals im himmelblauen Dress der Gastgeber mit, als ein Prototyp des Fußballwunders kreiert wurde.

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Im Viertelfinale des alten Europapokals der Pokalsieger holte Uerdingen nach einem chancenlosen 0:2 im Rudolf-Harbig-Stadion und einem 1:3-Pausenrückstand in der Grotenberg satte fünf Tore auf – und erzielte in den zweiten 45 Minuten sogar sechs Treffer innerhalb von 28 Spielminuten. Eine solch dramatische Wende in einer K.-o.-Partie ist bis heute selbst dem FC Barcelona nicht gelungen. 16,27 Millionen Zuschauer verfolgten Bayer gegen Dynamo staunend im ZDF. Die Mainzelmännchen hatten für das deutsch-deutsche Duell sogar den FC Bayern im Parallelspiel gegen den RSC Anderlecht zur Aufzeichnung degradiert. Die Protestanrufe vieler Fans beim ZDF zur Halbzeit waren am Ende nichtig und vergessen. Wegen eines Fußballwunders.

Uerdingens Plan war nur ein Unentschieden

„In der Halbzeit waren alle niedergeschlagen. Da hat bei uns in der Kabine niemand mehr an den Sieg geglaubt. Unser Plan war es, vielleicht noch ein Unentschieden zu schaffen und uns so nicht zu blamieren. Damals war das ja eines der ersten Uerdingen-Spiele, die live im Fernsehen ausgestrahlt wurden“, erinnert sich Friedhelm Funkel.

Alarmstufe vor dem Dresdner Tor, doch Uerdingens Friedhelm Funkel (rechts, in Hellblau) scheitert.
Alarmstufe vor dem Dresdner Tor, doch Uerdingens Friedhelm Funkel (rechts, in Hellblau) scheitert. © imago sportfotodienst

Ein Schlüssel zum Erfolg lag sicher auch im Torwartwechsel auf Dresdner Seite. Bernd Jakubowski musste wegen eines Schulterbruchs im Zweikampf mit Wolfgang Funkel, der später auch das Karriere-Aus bedeutete, ausgetauscht werden. Den unerfahrenen Jens Ramme setzten die Uerdinger unter Druck. „Man merkte der Dresdner Defensive an, dass das Vertrauen in den neuen Torhüter fehlte. Das haben wir ausgenutzt“, betont Funkel, „nach dem 2:3 haben wir wirklich Pressing gespielt, bei Einwürfen oder Eckbällen keine Sekunde mehr verschenkt. Das war ein Lehrbeispiel für Druck.“

Dramatisch wurde es aber erst nach Wolfgang Schäfers Tor zum 4:3. „Es waren noch 25 Minuten zu spielen, da wussten plötzlich alle, wir können es noch schaffen“, erinnert sich Funkel. Dietmar Klingers 5:3 und Wolfgang Funkels verwandelter Handelfmeter zum 6:3 verwandelten die Grotenburg in ein Tollhaus. Dann hatte Dynamo die Riesenchance durch Pilz, doch Bayer-Keeper Werner Vollack rettete mit einer Glanztat.

Uerdinger Platzsturm und Lippmanns Flucht

Per Konter legte Wolfgang Schäfer mit seinen typischen langen Schritten noch das 7:3 im Nachschuss obendrauf. Friedhelm Funkel stand einschussbereit nicht weit entfernt. „Wenn der daneben gegangen wäre, hätte Wolfgang was zu hören bekommen“, sagt Funkel heute noch schmunzelnd.

Nach Schlusspfiff gab es einen Platzsturm. ZDF-Reporter Rolf Kramer interviewte knochentrocken Bayer-Trainer Karl-Heinz Feldkamp und Dresdens Ikone Klaus Sammer. Der WM-Spieler der DDR und Vater von Matthias Sammer war bald nach Rückkehr an die Elbe seinen Job los.

Lauf, lauf! Rudi Bommer (rechts) feuert 7:3-Schütze Wolfgang Schäfer (links) im Duell mit Hans Uwe Pilz an.
Lauf, lauf! Rudi Bommer (rechts) feuert 7:3-Schütze Wolfgang Schäfer (links) im Duell mit Hans Uwe Pilz an. © imago sportfotodienst

Dabei spielte die sensationelle Niederlage nicht die alleinige Rolle. Mit Frank Lippmann floh auch noch der 2:1-Torschütze. Während die Uerdinger in der Krefelder Pizzeria La Barca und einem weiterem heute nicht mehr existenten Restaurant die Nacht zum Tage machten, setzte sich Lippmann über die Tiefgarage des Hansa-Hotels mit Hilfe eines Freundes nach Nürnberg ab.

„Es hat fast drei Tage gedauert, bis dieser riesengroße Erfolg für uns verarbeitet war. Dann kamen die Gedanken an die Dresdner hoch. Was müssen die jetzt in der DDR für Repressalien aushalten?“, erinnert sich Funkel.

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Sein ehemaliger Bundesliga-Kollege Edmund Stieber war damals als Angestellter von Bayer abgestellt, die Dresdner vom Flughafen zum Hotel zu bringen und im Kollektiv mit den Dynamos einkaufen zu gehen – bei Horten und Sport Borgmann. „An dem Morgen nach dem Spiel kam Co-Trainer Dieter Riedel zu mir und sagte nur: ,Bloß kein Aufsehen, der Lippmann ist geflitzt!’“, erinnert sich Stieber, von 1971 bis 1977 Profi-Verteidiger bei Bayer 05.

Staatssicherheit protokolliert Kauf eines Videorekorders

Und dies, obwohl die Spitzel des damaligen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit auch in Krefeld dabei waren. Stieber: „Mit Trainer Sammer bin ich in meinem Privatauto los, um einen Videorekorder zu besorgen. Viel später habe ich erfahren, dass auch dies von einem Informellen Mitarbeiter protokolliert worden war. Denen war die Reise viel zu freundlich gestaltet worden, gerade auch bei der Einkaufsproblematik.“

Sportlich ging es für Uerdingen im Halbfinale gegen Atletico Madrid weiter. Erst 0:1, dann 2:3 in der Grotenburg – eine würdige Leistung. Für das Endspiel, das Dynamo Kiew in Lyon gegen Atletico mit 3:0 gewann, reichte es nicht mehr.

Viel mehr Fußball-Glück geht nicht: Friedhelm Funkel (links) und Torhüter Werner Vollack von Bayer 05 Uerdingen nach dem 7:3-Wunder gegen Dynamo Dresden.
Viel mehr Fußball-Glück geht nicht: Friedhelm Funkel (links) und Torhüter Werner Vollack von Bayer 05 Uerdingen nach dem 7:3-Wunder gegen Dynamo Dresden. © dpa

Das war die Uerdinger Europapokal-Saison:

1. Runde ; 17.9.85: FC Zurrieq/Malta - Bayer 0:3 (0:2), Tore: 0:1 und 0:2 F. Funkel (8., 35.), 0:3 Guðmundsson (89.).
2.10.85: Bayer - Zurrieq 9:0 (5:0), Tore: 1:0 Bommer (13./Elfmeter), 2:0 F. Funkel (22./Elfmeter), 3:0 Raschid (29.), 4:0 Bommer (32.), 5:0 Loontiens (37.), 6:0 Raschid (49.), 7:0 Puszamszies (72.), 8:0 Feilzer (76.), 9:0 Loontiens (82.).

Achtelfinale; 23.10.85: Bayer 05 - Galatasaray Istanbul 2:0 (1:0), Tore: 1:0 Schäfer (35.), 2:0 Bommer (85.). 5.11.85: Galatasaray Istanbul - Bayer 05 1:1 (0:1), Tore: 0:1 Herget (34.), 1:1 Prekazi (52.).

Viertelfinale ; 5.3.86: Dynamo Dresden - Bayer 05 2:0 (0:0), Tore: 1:0 Lippmann (50.), 2:0 Pilz (60.).
19.3.86: Bayer 05 - Dynamo Dresden 7:3 (1:3).

Bayer 05 Uerdingen: Werner Vollack – Matthias Herget, Michael Dämgen, Wolfgang Funkel, Werner Buttgereit, Rudi Bommer, Horst Feilzer, Friedhelm Funkel, Franz Raschid (52. Dietmar Klinger), Lárus Guðmundsson (72. Peter Loontiens), Wolfgang Schäfer; Trainer: Karl-Heinz Feldkamp

SG Dynamo Dresden: Bernd Jakubowski (46. Jens Ramme) – Hans-Jürgen Dörner, Matthias Döschner, Andreas Trautmann, Reinhard Häfner, Jörg Stübner, Hans-Uwe Pilz, Matthias Sammer (28. Torsten Gütschow), Ralf Minge, Ulf Kirsten, Frank Lippmann; Trainer: Klaus Sammer.

Tore: 0:1 Minge (1.), 1:1 W. Funkel (13.), 1:2 Lippmann (35.), 1:3 Bommer (42./Eigentor), 2:3 W. Funkel (58./Foulelfmeter), 3:3 Guðmundsson (63.), 4:3 Schäfer (65.), 5:3 Klinger (78.), 6:3 W. Funkel (79./Handelfmeter), 7:3 Schäfer (86.).

Schiedsrichter: Lajos Németh (Ungarn).

Zuschauer: 22.000.

Halbfinale ; 2.4.86: Atletico Madrid - Bayer 05 1:0 (0:0), Tor: 1:0 Prieto (77.).
16.4.86: Bayer 05 - Atletico Madrid 2:3 (0:2), Tore: 0:1 Rubio (15.), 0:2 Cabrera (28.), 1:2 Herget (54.), 1:3 Prieto (58.), 2:3 Guðmundsson (63.).