Gelsenkirchen. Die Köpfe der Schalke-Profis sind in der Krise extrem wichtig. Sportpsychologe Paasch fordert: Der Klub muss sich mehr um seine Spieler kümmern.

Der renommierte Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch bringt eine umfangreiche Erfahrung aus dem Bereich der Sportpsychologie mit, die sowohl den Leistungs- als auch den Breitensport umfasst. Im Laufe seiner Karriere hatte er die Gelegenheit, mit Athletinnen und Athleten auf verschiedensten Ebenen zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit erstreckte sich unter anderem auf Mitglieder der deutschen Fußballnationalmannschaft der Frauen während der letzten Weltmeisterschaft, sowie auf Spielerinnen und Spieler bei Vereinen wie SGS Essen, Arminia Bielefeld, Hertha BSC, VfL Bochum und auch auf einzelne Spieler des FC Schalke 04.

Im Interview mit der WAZ blickt der Experte auf die verzwickte Situation des Zweitligisten Schalke 04 und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf, um aus dem Teufelskreis zwischen Versagens-Angst, Auswärts-Blockade, Kritik, der Last des S04-Logos und mangelndem Selbstvertrauen auszubrechen.

Herr Paasch, der FC Schalke 04 ist als selbsternannter Aufstiegsfavorit in die Saison gestartet und hat sein Ziel mittlerweile stark nach unten korrigiert. Jetzt zählt nur noch der Klassenerhalt. Wie bewerten Sie den Zick-Zack-Kurs?

Die Frage, die sich stellt, ist die nach der Herkunft der definierten Zielsetzung: Ist diese vom Trainerstab initiiert, von der Mannschaft selbst formuliert, oder entspringt sie den strategischen Überlegungen der Führungsebene, motiviert durch das Bestreben, den Verein aus ökonomischen Gründen so rasch wie möglich in die Bundesliga zurückzuführen? Bei genauerer Betrachtung der Konstellation des FC Schalke 04 wird deutlich, dass der Verein über Spieler verfügt, die jeweils individuelle Fähigkeiten und Talente mitbringen. Die Herausforderung besteht darin, diese individuellen Qualitäten effektiv in ein kollektives Zusammenspiel zu integrieren, um so eine Einheit zu formen, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Es entsteht der Eindruck, dass bei den Spielern ein Bedarf besteht, diese individuellen Stärken besser zu einem funktionierenden ‚Wir‘ zusammenzuführen.

Woran machen Sie das fest?

In meiner jüngsten Auseinandersetzung mit verschiedenen Spielstilen und Mannschaftsdynamiken fiel mir auf, dass die Formierung eines kollektiven ‚Wir-Gefühls‘ und das gemeinsame Streben nach Zielen zentrale Faktoren für die Leistung einer Mannschaft darstellen. Bei Betrachtungen verschiedener Ligen wird deutlich, dass Teams, die eine starke gemeinsame Vision und Leidenschaft teilen, eine bemerkenswerte Dynamik und Einsatzbereitschaft an den Tag legen können. Diese Erkenntnis unterstreicht die Bedeutung der Integration individueller Talente und Fähigkeiten in ein übergeordnetes Teamgefüge, um so eine Einheit zu schaffen, die durch gemeinsame Ziele und das Streben nach Exzellenz geeint ist.

Sportpsychologe René Paasch.
Sportpsychologe René Paasch. © Jennifer Sanchez (Geb. Sawarzynski)

Schalkes Spieler haben zuletzt kräftig Feuer von außen bekommen. Der harte Kern der Fans hat mehrfach den Support eingestellt. Nach dem 2:5 gegen Hertha BSC flogen einige Bierbecher Richtung der S04-Profis, es gab laute Beschimpfungen.

Zur angesprochenen Thematik ist zunächst festzustellen, dass die Beziehung zwischen den Fans und dem Verein oft eine besonders intensive ist, was insbesondere für die Schalker Anhängerschaft gilt. Die Präsenz von 20.000 Unterstützern bei einem Auswärtsspiel unterstreicht die außergewöhnliche Verbundenheit und das Engagement der Fans. Dieses hohe Maß an Erwartungshaltung ist ein charakteristisches Merkmal des Fußballsports, in dem die Ergebnisse nicht immer vorhersehbar sind. Eine solche leidenschaftliche Unterstützung kann eine motivierende Kraft sein, birgt jedoch auch die Möglichkeit einer negativen Wendung, sollte die Leistung auf dem Platz hinter den Erwartungen zurückbleiben. Diese Ambivalenz spiegelt eine der Herausforderungen wider, mit denen Profisportler konfrontiert sind. Es bedarf eines professionellen Umgangs mit sowohl Zuspruch als auch Kritik, wobei anzumerken ist, dass die Reaktionen auf diese externen Einflüsse individuell variieren können. Einige Spieler mögen in der Lage sein, kritische Stimmen unbeeinflusst zu verarbeiten, während andere diese persönlich nehmen und dadurch beeinträchtigt werden könnten.

Was ist mit der Last des Logos? Hemmt das Schalke-Emblem eher?

Die Erwartungen, die mit Schalke 04 verbunden werden, sind tatsächlich von einer bemerkenswerten Intensität, die sich teilweise von der anderer Vereine unterscheidet. Dies rührt unter anderem aus der historischen Verwurzelung des Klubs im Bergbau, wo harte Arbeit und Einsatzbereitschaft zentrale Werte darstellen. Die Identifikation mit diesen Werten und die daraus resultierende Erwartungshaltung, sich vollständig für den Verein einzusetzen, kann eine zusätzliche Herausforderung darstellen, insbesondere wenn der sportliche Erfolg ausbleibt. Spieler, die diese Mentalität verkörpern und die Farben des Vereins mit Stolz tragen, sind essenziell für den Zusammenhalt und das Erreichen gemeinsamer Ziele. Es ist möglich, dass Neuankömmlinge die Tragweite dieser Erwartungen anfänglich unterschätzen. Die volle Tragweite der mit dem Verein verbundenen Leidenschaft und Erwartungshaltung wird oftmals erst in Zeiten sportlicher Rückschläge spürbar, wenn der Druck und die Anforderungen an die Spieler merklich zunehmen.

Auch interessant

Was kann Schalke als Verein tun, um die Spieler zu stärken und der allgemeinen Verunsicherung entgegenzuwirken?

Um den Spielern gezielt Stärkung zu verleihen und der vorherrschenden Verunsicherung entgegenzuwirken, ist es von essenzieller Bedeutung, auf psychologischer Ebene anzusetzen. Die Beeinflussung des Verhaltens durch sprachliche und visuelle Kommunikation ist ein zentraler Aspekt, der nicht unterschätzt werden darf. Daher ist eine kognitive Herangehensweise erforderlich, die das Zusammenwachsen des Teams fördert und jeden Einzelnen einbezieht. Ein authentisches Interesse am Wohlergehen der Spieler ist grundlegend. Dies beginnt bei grundlegenden Fragen nach ihrem Befinden, ihren Sorgen und der Art und Weise, wie der Verein unterstützend wirken kann. Es ist entscheidend, den Spielern einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie sich von dem Druck, der von verschiedenen Seiten auf sie einwirkt – sei es durch persönliche Erwartungen, Anforderungen des Trainerstabs, den Verein, mediale Darstellungen oder Kommentare in sozialen Netzwerken –, erholen können. Die Vorbereitung auf diese vielschichtigen Anforderungen und der Umgang damit sind Aspekte, die in der Betreuung der Profis eine Rolle spielen sollten. Kommunikation ist in dieser Hinsicht das zentrale Element, das einen Verein dabei unterstützt, eine positive und resiliente Mannschaftskultur zu etablieren.

Schalke-Trainer Karel Geraerts ist Belgier und spricht mit seinem Team vorwiegend in englischer Sprache. Ist das ein zusätzliches Problem?

Die Verwendung der englischen Sprache als Hauptkommunikationsmittel durch Trainer Karel Geraerts mit seinem Team bei Schalke stellt in der modernen, international geprägten Fußballwelt grundsätzlich kein unüberwindbares Hindernis dar, da viele Spieler über ausreichende Englischkenntnisse verfügen. Es besteht jedoch das Potenzial, dass bestimmte Nuancen oder spezifische Ausdrucksweisen ihre volle Wirkung verfehlen oder bei der Übersetzung zu Missverständnissen führen können. Die Effektivität der Kommunikation ist essentiell für die Vermittlung taktischer Anweisungen sowie für die motivationale Ansprache. Trainer Karel Geraerts bringt zweifellos ein hohes Maß an Engagement und eine klar definierte Fußballphilosophie mit. Die gegenwärtigen Herausforderungen, mit denen sich Schalke konfrontiert sieht, sind jedoch das Resultat langfristiger Entwicklungen und nicht ausschließlich auf die Sprachwahl zurückzuführen

Was meinen Sie genau?

Was ich hervorheben möchte, ist die Herausforderung der fehlenden Kontinuität, die Schalke 04 in verschiedenen Bereichen erfahren hat. Diese Instabilität erstreckt sich nicht nur auf die Position des Trainers und die Zusammensetzung der Mannschaft, sondern auch auf Schlüsselpositionen innerhalb der Vereinsführung und der sportlichen Leitung. Eine hohe Frequenz an Veränderungen in diesen essenziellen Bereichen kann zu einer mangelnden Beständigkeit führen. Dies wiederum trägt zu einer Atmosphäre der Verunsicherung bei, die sich sowohl auf die Spieler als auch auf das gesamte Vereinsumfeld auswirken kann.

Musste in der Länderspielpause viel Aufbauarbeit leisten: Schalkes Trainer Karel Geraerts: Hier mit Henning Matriciani (links) und Keke Topp.
Musste in der Länderspielpause viel Aufbauarbeit leisten: Schalkes Trainer Karel Geraerts: Hier mit Henning Matriciani (links) und Keke Topp. © Max Ellerbrake / firo Sportphoto | Max Ellerbrake

Wie können die Schalker Spieler im Saisonendspurt zu gemeinsamer Stärke finden, um den drohenden Abstieg abzuwenden?

Um im Saisonendspurt gemeinsam Stärke zu demonstrieren und den drohenden Abstieg abzuwenden, ist es essenziell, dass die Schalker Spieler ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickeln und sich gegenseitig unterstützen. Sie sollten sich darauf konzentrieren, aus jedem Training Selbstvertrauen zu schöpfen, ohne sich dabei von den möglichen negativen Konsequenzen weiterer Rückschläge lähmen zu lassen. Es ist von Bedeutung, täglich Fortschritte zu erzielen und auch kleine Erfolge als Motivationsquelle zu nutzen. Diese positiven Erlebnisse gilt es dann, effektiv in die Wettkampfpraxis zu übertragen und somit die Grundlage für eine erfolgreiche Bewältigung der Herausforderungen zu legen.

Stichwort Auswärtsschwäche: Schalke in 13 Begegnungen auf fremden Plätzen zehn Spiele verloren. Gibt es da ein Rezept?

Um der Auswärtsschwäche entgegenzuwirken, ist es entscheidend, eine motivierende Kommunikationsweise zu pflegen. Die Spieler sollten ermutigt werden, nicht die Furcht vor einer weiteren Niederlage auf fremdem Boden in den Vordergrund zu rücken, sondern vielmehr die Vorfreude auf die nächste Begegnung und die Möglichkeit, dort Erfolg zu erzielen, zu kultivieren. Die psychologische Komponente spielt dabei eine zentrale Rolle. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein Profispieler teilte mir einmal mit, dass er sich nach einem missglückten ersten Pass bereits als gescheitert ansieht. Meine Antwort darauf zielte darauf ab, diese Sichtweise zu revidieren: Ein Spiel dauert 90 Minuten plus Nachspielzeit, und es gibt stets die Möglichkeit, sich zu verbessern. Fehler sind Teil des menschlichen Daseins. Entscheidend ist, sich davon nicht entmutigen zu lassen, sondern aus jeder Situation das Beste zu machen, sei es durch einen gelungenen Pass oder den Gewinn eines Zweikampfes, um wieder in die richtige Spur zu finden.

Schalke 04 – Mehr News und Hintergründe: