Brozany. Ohne große Worte wurde Jiří Němec zur Legende beim FC Schalke 04. Was macht er heute? Versuch einer Begegnung in Tschechien.
Ein kleines böhmisches Dorf auf halber Strecke zwischen Dresden und Prag scheint der perfekte Biotop für den stillen Mann zu sein. Da muss Jiří Němec nicht viel reden auf dem Sportplatz zwischen Feldern und Wäldern am Rand der Gemeinde Brozany nad Ohri, 480 Einwohner laut Wikipedia, eine Burg und eine kleine Staustufe im Flüsschen Loučná.
Der Klub Sokol Brozany, wo Němec seit 2012 mit einer kleinen Unterbrechung der Trainer ist, verlangt keinerlei Öffentlichkeitsarbeit von ihm und selbst der vermeintliche Pressesprecher ist verschwiegen wie ein Grab am Friedhof an der Hřbitovstraße. Deshalb wird es in diesem Artikel kein aktuelles Zitat des Protagonisten geben.
Das Hlavani-Stadion an der Ke-Hřišti-Straße ist bescheidener als die Anlage manches deutschen Kreisligisten. Ein großes Klubhaus mit zwei Stockwerken, eine Barriere um den Rasenplatz, zwei mickrige Tribünen für zusammen kaum 30 Fans. Als Ende August Erstligist Templice zum Pokalspiel kommt, stehen die Wagen des Fernsehens drei Meter hinter der Torauslinie.
Jiří Němec steht meist an der Seitenlinie, manchmal sitzt er auf einer Steinstufe. Nach den Führungstoren im schließlich knapp verlorenen Spiel (3:4) fährt sich Němec stoisch durch den Rauschebart.
Selbst auf der Webseite des Klubs, die Milan Richtr verantwortet, der vermeintliche Pressesprecher, findet sich kein Zitat von ihm, nicht einmal in dem großen Artikel über eine kleine Episode der Vorsaison, die die meisten sehr amüsiert hat. Vermutlich alle außer Němec, selbst.
Nemec: Ein Anzug als Motivation
Da taucht der Trainer im Mai, damals noch glattrasiert, im Anzug am Spielfeldrand auf. Němec, der sonst nur Sportkleidung trägt, hat das zu Saisonbeginn für den Fall versprochen, dass seine Mannschaft fünfzig Punkte holt. Das gelingt Sokol, das mit Platz drei in der dritten Liga die beste Platzierung seiner Geschichte erreicht, und Němec hält Wort.
Die Zuschauer quittierten seine Vorstellung im dunklen Zwirn zu blauem Hemd mit fröhlichem Gejohle, Torwart Jiří Havránek behauptete: „Den Trainer in den Anzug zu bekommen, bedeutet uns mehr als eine Siegprämie.“ Milan Richtr, der auch Exekutivmitglied bei Sokol ist, zitiert sich selbst so: „Die Motivation war so groß, dass die halbe Mannschaft am Ende der Saison unter Schmerzen und Tabletten gespielt hat.“
Torhüter Havránek, selbst Inhaber einer Trainerlizenz, ist es auch, der findet: „Wie Herr Němec uns motiviert, das könnte man in Trainerschulen lehren.“ Wie genau Němec das macht, bleibt mysteriös. Dabei kann Tschechiens Fußballer des Jahres 1997 mit Sprache gut umgehen. „Er spricht heute fast perfekt deutsch“, sagt Olaf Thon, sein langjähriger Schalker Kollege. Nur nicht mit Journalisten. „Der redet sehr, sehr wenig. In allen Bereichen der Kommunikation war er sehr reduziert“, beschreibt es Helmut Schulte, der 1993 Němecs erster Trainer bei Schalke 04 war.
Als Němec vor dreißig Jahren nach Deutschland kam, hatte er schnell einen großen Wortschatz, was aber nicht auffiel, da er sich um jedes Gespräch mit Reportern drückte. Als Meister bezeichneten ihn die Anhänger in Gelsenkirchen, als „unseren größten Strategen“ sah ihn Manager Rudi Assauer.
„Jiří war der perfekte Achter, Verbindungsspieler, so eine Art Pirlo“, adelt ihn Helmut Schulte, sein früherer Trainer. „Ein Box-to-Box-Player mit einer wahnsinnigen Ballsicherheit und total schlau.“ Auch Thon zeigt sich begeistert von Němec, einem aus der Reihe der Eurofighter, die 1997 in Mailand den Uefa-Cup holten. Němec ist auch Pokalsieger 2001 und 2002, neben Trainer Huub Stevens der Einzige, der mit Schalke diese drei Titel gewann. „Wenn er den Ball hat, er verliert ihn nicht,“ erinnert sich Thon.
Hartnäckiges Abwimmeln von Journalisten
Und heute verliert er kaum Worte. Olaf Thon muss bei der Bitte, den Kontakt herzustellen, im Juli 2023 lachen und fragt: „Ist denn schon Weihnachten?“ Auf die von ihm weitergeleiteten Nachrichten regiert Jiří Němec nicht. Auch der Klub Sokol Brozany beantwortet nicht einmal die einfachen Fragen. Milan Richtr drückt die Anrufe mit deutscher Vorwahl immer weg, drei Dutzend Mails in vier Monaten ignoriert er, nur einmal schreibt er im August, er spreche leider kein Deutsch und würde auf Englisch Fragen beantworten. Was er dann nicht tut.
Auf der Homepage von Sokol Brozany steht: „Bis auf wenige Ausnahmen kommuniziert Němec nicht mit den Medien und lehnt Interviewanfragen lächelnd ab.“ So hat Jiří Němec schon auf Schalke neun Jahre lang geschwiegen, schon damals so höflich und charmant wie auch hartleibig auf Anfragen reagiert: „Davon kannst Du noch vier Monate träumen!“
Dabei hat Němec nichts gegen Journalisten, in Prag hat er dem vor zehn Jahren verstorbenen großartigen tschechischen Kollegen František Steiner für ein Buch „überraschend viel erzählt“.
In Gelsenkirchen hat Němec mindestens einem Reporter einmal ein Trikot geschenkt, nachdem er im ersten Spiel des neuen Jahrtausends gegen Hansa Rostock eines seiner lediglich sechs Bundesligatore zum 2:0-Sieg beitrug. Doch nach dem Spiel teilte der tschechische Schweiger allen wartenden Journalisten knapp mit: „Hab keine Zeit.“ Dem Kollegen vom Radio, der sich ihm auf dem Parkplatz ein Stockwerk tiefer mit aufgerichtetem Mikrofon entgegenstellte, widmete Jiří Němec dann sogar zwei Sätze: „Kommst Du leicht zu spät. Ich hab’ oben schon alles gesagt.“
Sein Humor erinnert an den braven böhmischen Soldaten Schweijk und findet seinen Niederschlag in einem Satz, den Jiří Němec kurz vor seinem Abschied aus Gelsenkirchen formulierte: „Das einzige Problem, das ich hier hatte, waren die Pressetermine.“ Er hatte tatsächlich in Deutschland nicht einen, einmal nur stellte er sich den Medien, 1997 in seinem Heimatland Tschechien, vor einem Schalker Uefa-Cup-Spiel bei Slavia Prag.
Ein Gegenentwurf zu Raúl
Němec ist ein sparsamer Mensch – mit Geld und Gesten. Er ging zu Aldi einkaufen und wenn die Aufnahmen für die Autogrammkarten gemacht wurden, beschied er den Fotografen Jürgen Fromme: „Ein Foto reicht!“ Er setzte sich auf den Ball und weg war er. „Ich glaube, ich war nicht so ein großer Spieler“, sagte er mal, aber niemand hat je mehr Länderspiele als Schalker absolviert als Jiří Němec, nämlich 62 – eins davon EM-Finale 96.
„Er war Gegenentwurf zu Rául,“ findet Olaf Thon, „ein Superstar im Verborgenen“. Doch seine wenigen Worte hatten großes Gewicht. „Er hat selbst als Kapitän kaum geredet, aber wenn er mal den Mund aufmachte, hat jeder zugehört,“ sagt sein früherer Nationalmannschaftskollege Pavel Kuka.