Essen. Die Stars bei der EM 80 hießen Stielike, Hrubesch und Rummenigge – Bernard Dietz vom MSV Duisburg führte sie vor 40 Jahren als Kapitän zum Titel.
Auch als Sieger kommt man sich manchmal verloren vor. Es ist der 22. Juni 1980, Stadio Olimpico in Rom, nach dem Finale der Fußball-Europameisterschaft. Bernard Dietz hielt eben noch den Pokal in der Hand, „ich habe ihn in den italienischen Himmel gehoben und wusste: Millionen schauen – und ganz Duisburg ist begeistert“.
Doch beim Kapitän des Europameisters, den sie nicht nur beim MSV alle Ennatz nennen, läuft nicht alles, was von alleine kommen muss. Dopingprobe, Dietz wartet und wartet, Uli Stielike ist auch zur Kontrolle verdonnert. „Die Kabine musste ja auch noch aufgeräumt werden.“ Der Anführer des DFB-Teams ist ein ordentlicher Mensch. Gut zwei Stunden später stoßen beide zum Rest der Mannschaft im Holiday Inn, dem Teamquartier im Westen der Ewigen Stadt. Es ist Bernard Dietz‘ größter Tag als Fußballer, es wird gefeiert, Stielike beginnt zu singen: „Wir müssen nur den Nippel durch die Lasche zieh’n…“
Bei der Feier ertönt Mike Krügers "Wir müssen nur den Nippel durch die Lasche zieh'n...."
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So unvorstellbar es heute ist, auf einen Titel ein Lied von Mike Krüger anzustimmen, so erstaunlich war es damals, dass der Meidericher Dietz Bernard, wie sich der 72-Jährige seit Jahr und Tag am Telefon meldet, Kapitän von so namhaften Arbeitskollegen wie Stielike, Karl-Heinz Rummenigge, Bernd Schuster oder Horst Hrubesch war. Der Kerl aus dem westfälischen Bockum-Hövel, der in seinen 16 Bundesligajahren – zwölf mit dem MSV, vier mit Schalke 04 – 221 Mal und damit so häufig wie kein Spieler davor oder danach verlor. Der Linksverteidiger, dessen 77 Tore ebenso Bundesliga-Rekord sind für einen Abwehrmann. Der gar nicht das Wort führte auf dem Platz, der für das Team aber sein letztes Hemd gab. Dietz: „Mein Antrieb war immer: Da kommen viele Leute, um uns zu sehen, die zahlen viel Geld dafür – denen musst du auch etwas zeigen. Und das haben die Leute gespürt.“ Bis heute ist Dietz der einzige Kapitän eines Revier-Klubs, der für die Nationalmannschaft einen Siegerpokal entgegennahm.
Die EM 1980 in Italien ist Jupp Derwalls erstes Turnier als Bundestrainer. Seit anderthalb Jahren, seit der Schmach bei der WM in Argentinien, ist die Mannschaft unter dem Nachfolger von Helmut Schön unbesiegt. Am Ende sind es 23 Spiele in Serie ohne Niederlage – der Rekord gerät in Erzählungen über verschiedene Nationalmannschafts-Epochen gerne in Vergessenheit.
Wie Bernard Dietz Lothar Matthäus zum DFB-Debüt verhalf
Stielike oder Manfred Kaltz sind bereits erfahrene Kräfte, aber Derwall hat mit Schuster, Lothar Matthäus, Klaus Allofs, den Förster-Brüdern Karlheinz und Bernd sowie Hansi Müller (alle Anfang 20) viele im Nationaltrikot noch unerfahrene Jungs im Team. „Ich bin schon stolz darauf, als Kapitän meinen Teil zum Umbruch beigetragen zu haben“, sagt Dietz. „Wir haben uns gefunden, wir passten menschlich zusammen, hatten keine Grüppchenbildung. Da war mir klar: Mit dieser Truppe wirst du was erreichen.“
1980 ist eine EM noch nicht das hochgejazzte Event von heute mit Rudelgucken und Fanmeilen. Auftaktspiel in Rom gegen die damalige CSSR, Kalle Rummenigge trifft vor 10.500 Zuschauern zum 1:0. Gegen die Niederlande erleben immerhin 30.000 Fans im Neapolitaner Stadio San Paolo drei Allofs-Tore und ein Stück deutscher Fußballgeschichte. Es steht 3:0, draußen macht sich Matthäus warm, doch keiner will vom Platz. Dann spielt Dietz eine Verletzung vor, geht vom Feld für den späteren Rekord-Nationalspieler. Dietz hat Mitleid mit Matthäus, denn der junge Gladbacher hatte ihm schon bei der Nominierung mit Stirnrunzeln gesagt: „Ich habe meiner Freundin doch versprochen, dass wir zusammen in Urlaub fahren.“ Matthäus spielt nicht gut, Deutschland gewinnt aber 3:2 und zieht nach dem 0:0 gegen Griechenland ins Endspiel gegen Belgien ein.
Als Linksverteidiger Dietz viermal gegen den FC Bayern traf
Mit Dietz als Spielführer. Welch eine Karriere für einen Spieler, der erst mit 22 Jahren nach Duisburg in die Bundesliga kommt, dort durch Zufall vom Stürmer zum Linksverteidiger umgeschult wird und 1977 durch vier Tore als Abwehrspieler beim 6:3 über den FC Bayern Kultstatus erlangt. In 19 seiner 53 Länderspiele trägt er die Kapitänsbinde, erstmals 1978 gegen die Niederlande. Da rief Dietz seine Frau Petra an und sagte: „Pack‘ ma‘ die Mutter ein, ich bin der Kapitän.“
Dietz verkörpert die Geschichte des kleinen Mannes, der sich alles hart erarbeitet. Er stammt als eines von acht Kindern aus einer Bergmanns-Familie, lernt den Beruf des Schlossers. Mit dem Ball am Fuß verdient er sich Respekt – und zollt diesen anderen. „Mein Vater, der leider zu früh verstorben ist, hat mir gesagt: Du darfst nie vergessen, woher du kommst. Das habe ich, glaube ich, ganz gut hingekriegt.“
Dietz ist die Bodenständigkeit in Person, er wohnt im 3000-Einwohner-Ort Drensteinfurt-Walstedde, dort hat er eine dreistellige Telefonnummer hinter der Vorwahl, aber kein Internet. Bescheidenheit prägt sein Leben: Das goldene Besteck, mit dem er kurz vor dem Finale bei einem Mannschaftsabend in einem Nobelrestaurant Spaghetti isst, ist ihm genauso fremd wie das Gehabe aktueller Stars. Dabei könnte ein so torgefährlicher Verteidiger wie er heute Millionen verdienen (erstes MSV-Monatsgehalt: 1200 Mark). Aber in dieser Fußballwelt fände Dietz für sich keinen Platz: „Ich will keine Sekunde von dem abgeben, was ich damals erlebt habe.“
Doppelpack von Hrubesch im Finale gegen Belgien
Vor allem nicht das, was sich am 22. Juni 1980 in Rom zuträgt. Der Hamburger Horst Hrubesch trifft zum 1:0, ein unberechtigter Elfmeter nach der Pause bringt den Ausgleich. Dietz war mit seinen Vereinen ein Fußballerleben lang bestenfalls Zweiter, ihm schwant auch gegen unangenehme Belgier Böses: „Ich dachte: Ach du Schande, fängt das wieder an?“ Doch dann macht Kopfballungeheuer Hrubesch in der 88. Minute das 2:1. „Alles fiel von mir ab, ich verstand: Boah, du bist Europameister.“ Wie benommen von der Euphorie steigt er die Stufen zur Ehrentribüne hoch, der hochanständige Dietz übersieht in dem Moment sogar, dass die belgische Königin Fabiola ihm die Hand reichen möchte. Noch heute klingt in seinen Worten die Scham durch, wenn er davon erzählt.
Vier Jahrzehnte ist das her. Dietz hat sportlich (auch später als Trainer sowie Funktionär in Duisburg und Bochum) genug verloren, um Siege zu schätzen. Es soll aber ein noch bedeutenderer Jahrestag folgen. Vor zwei Jahren erlitt er einen Herzinfarkt, nach zwei Operationen ist Bernard Dietz zum Glück wieder wohlauf und sagt: „Toitoitoi, denn ich will ja noch mal 50 Jahre nach dem Titel Fußball spielen.“