London. Ex-Bayern-Coach wird neuer Nationaltrainer in England. Das sorgt nicht überall für Freude. Aber der Deutsche präsentierte sich gut gelaunt.
Keine andere Fußballnation hat England in den vergangenen Jahrzehnten mehr Schmerzen bereitet als Deutschland. Immer wieder scheiterte die englische Männer-Nationalmannschaft bei Welt- und Europameisterschaften am Erzrivalen, meistens im Elfmeterschießen. Inzwischen wartet das schon so lange ungekrönte Mutterland des Fußballs bekanntlich seit dem einzigen WM-Heimsieg 1966 auf einen Titel bei den Männern. Diese Sehnsucht der Engländer soll nun – ausgerechnet – mit Thomas Tuchel ein deutscher Trainer erfüllen.
Tuchel ist nach dem Schweden Sven-Göran Eriksson und dem Italiener Fabio Capello der erst dritte nicht-britische Trainer in der FA-Historie – und so etwas wie Englands letzte Hoffnung, die ewige Titelmisere zu beenden. Die Boulevardzeitung Sun hieß den Deutschen in dessen Landessprache auf dem Titel willkommen, die Schlagzeile: „Fußball kommt nach Hause!“ Der Slogan ist eine Übersetzung der englischen Hymne „Football’s coming home“. In der Vorwoche einigten sich die FA und Tuchel auf eine gemeinsame Zusammenarbeit über 18 Monate – von Beginn des neuen Jahres an bis zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Er sei stolz und empfinde es zugleich als Privileg, dass ihm die Ehre erwiesen werde, das englische Nationalteam zu trainieren, sagte Tuchel bei seiner Vorstellung im Wembley-Stadion am Mittwoch. Sein Ziel sei es, den englischen Traum vom ersten WM-Titel nach dann 60 Jahren in den Staaten zu verwirklichen und damit für einen „zweiten Stern auf dem Trikot“ zu sorgen. Seine neue Rolle erwecke in ihm das „junge Ich“ aus den eigenen Teenager-Tagen. Auf dem Weg zur Pressekonferenz habe er ein Zitat des Fußballers Pelé aufgeschnappt, der einst über Wembley sagte, es sei das Herzstück des Fußballs. Diese Sicht könne er, Tuchel, nur bestätigen. Er liebe es einfach, in England zu arbeiten. Zu seiner neuen Mannschaft äußerte er sich derweil noch nicht.
Ex-Bayern-Trainer Tuchel fühlt sich England verbunden
Im Vergleich zu seinem zurückliegenden Engagement beim FC Bayern präsentierte er sich ausgesprochen gut gelaunt. Es fühlte sich so an, als wäre Tuchel wirklich irgendwie „nach Hause“ gekommen. Dabei stammt er aus Krumbach in Schwaben. Er kleidete sich wie ein englischer Gentleman, trug weißes Hemd und schwarzes Sakko. Schon seit langer Zeit fühle er eine „persönliche Verbindung“ zum englischen Fußball, bekräftigte der 51-Jährige. Im Januar 2021 hatte er den FC Chelsea übernommen und diesen in derselben Saison überraschend zum Sieg in der Champions League geführt, seinem bisher größten Erfolg als Trainer.
Tuchel gilt in der Szene wegen seines taktischen Geschicks als Spezialist für K.o.-Spiele und wird aufgrund seiner bisherigen Titelsammlung als verlässlicher Seriensieger wahrgenommen. Diese Reputation soll den ewig ungekrönten Engländern das Zutrauen geben, die eigene Durstrecke endlich hinter sich zu lassen. Nach zwei verlorenen EM-Finals 2021 und 2024 ist der vorherrschende Eindruck gerade, dass die Engländer um den auch im Klubfußball titellosen Kapitän Harry Kane gerade nicht unbedingt an den eigenen Erfolg glauben. Die Zeitung Times mutmaßt, Tuchel könnte für England zum „X-Faktor“ werden.
Lieber ein Patriot statt Tuchel? England ist skeptisch
Die Anstellung eines Deutschen als englischer Nationaltrainer schien in der Vergangenheit geradezu undenkbar zu sein. Schon der Gedanke daran wirkte auf der Insel fast verstörend. Die Deutschen fanden in Englands Fußball-Öffentlichkeit lange Zeit kaum Erwähnung. Die Mail tobte nun, England benötige „keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten“. Dem Verdikt liegt auch zugrunde, dass mit der Tuchel-Personalie dem stolzen Fußball-Mutterland vor Augen geführt worden ist, derzeit über keinen eigenen geeigneten Trainer für den Nationalposten zu verfügen.
Doch Tuchel hat mit seinem verbindlichen Auftreten zuletzt während des Chelsea-Gastspiels dazu beigetragen, dass sich das einst angespannte Fußball-Verhältnis zwischen den Engländern und Deutschen ein Stück weit normalisiert hat. Es tue ihm leid, einen „deutschen Reisepass“ zu haben, witzelte er – und lobte zugleich die englische Nationalhymne „God Save the King“, die ihn immer „berührt“ habe. Wird er sie auch vor den Länderspielen mitsingen? Das habe er „noch nicht entschieden“, wich Tuchel aus. Er war bei seiner Wortwahl bemüht, das wegen seiner deutschen Herkunft uneinige England zu vereinen. Er könne verstehen, wenn es Engländer gebe, die einen heimischen Nationaltrainer bevorzugen; er hoffe aber auf eine „faire Chance“. Die Pointe wäre natürlich, wenn in Tuchel ein Deutscher die Engländer auf den Thron führen würde.