Paris. Timo Boll hat bei Olympia 2024 in Paris ein emotionales letztes internationales Spiel erlebt. Für Düsseldorf spielt er noch Bundesliga.
Als die letzte Vorhand verschlagen ist, geht Timo Bolls Blick zur Decke. Er beißt sich auf die Lippe, wartet darauf, seinem Gegner zum Sieg zu gratulieren. Doch in ihm arbeitet es. Wer etwas nie Dagewesenes erlebt, klammert sich an Routinen, sie geben Sicherheit. Also macht er alles wie immer. Den Gewinner abklatschen. Den Schiedsrichtern die Hand schütteln. Kurz ins Publikum winken. Ordentlich räumt er seinen Schläger in die Hülle. Dabei weiß er, dass er ihn nie wieder auf internationaler Bühne herausholen wird.
Als er sich setzt, bricht es über ihn herein. Später wird er sagen: „Da war erstmal eine gewisse Leere, ich wusste gar nicht, wie ich mich verhalten soll.“ Wie auch? In der Regel beendet man seine Karriere nur einmal. Am Dienstagabend ist mit der Viertelfinal-Niederlage (0:3) im Tischtennis-Teamwettbewerb bei den Olympischen Spielen in Paris eine ausgesprochen große zu Ende gegangen. Timo Boll, mittlerweile 43 Jahre alt, hat sein letztes Spiel auf internationaler Bühne absolviert. Er sitzt da nun in der Halle vier der Arena Süd und weiß nicht weiter. „Wir hatten verdient verloren, ich war erschöpft, ratlos, enttäuscht. Irgendwie auch froh, dass es vorbei ist, diesen Druck zu spüren.“ Gefühlschaos.
Publikum in Paris feiert Timo Boll
Er schaut ins Publikum, entdeckt seinen Freund Dirk Nowitzki. Der ehemalige Basketball-Superstar klatscht anerkennend. „Timo, Timo“, schallt es von den Rängen. Der Hallensprecher versucht sich an der List der vielen Erfolge Bolls. Der Jubel wird immer lauter – nicht nur deutsche Fans zollen ihm Tribut. Timo Boll erhebt und bedankt sich, kämpft mit den Tränen. „Bei den Sprechchören hat es mich brutal übermannt.“
„Should I stay or should I go“, spielt der Hallen-DJ, als Boll in die Katakomben verschwindet. Bleiben oder gehen, diese Frage hat ihn lange umtrieben. Doch im Mai legte er sich fest: Nach den Olympischen Spielen ist Schluss mit der internationalen Karriere. Das 1:3 gegen seinen Düsseldorfer Klubkollegen Anton Källberg (26) aus Schweden ist das letzte Spiel in der großen Karriere von Timo Boll. Zu Beginn des zweiten Satzes verhungert ihm ein hoher Abwehrball in der Luft, als würde ihm die Kraft ausgehen. Es ist symbolisch.
Kollegen schwärmen über große Karriere von Timo Boll
In Paris erlebte der Hesse aus Höchst im Odenwald seine siebten Olympischen Spielen. Seit Sydney 2000 hat Timo Boll das Welttischtennis geprägt wie kein anderer Europäer. 2003 mit 21 Jahren erstmals die Nummer eins der Welt. Eine große Sammlung an WM- und Olympiamedaillen. Rekordeuropameister und zig Mal Deutscher Meister. 2018 führte er noch mal die Weltrangliste an, war mit 37 Jahren die älteste Nummer eins der Welt. Genauso wie 2021 mit Bronze ältester WM-Medaillengewinner. Er begann als Ausnahmetalent und hört als Sportlegende auf. Bundestrainer Jörg Roßkopf, ein langjähriger Weggefährte, sagt: „Timo ist der Größte, den wir je hatten.“ Teamkollege und Freund Dimitrij Ovtcharov erscheint „alles unfassbar, was Timo geleistet hat, was er dem Sport bedeutet“.
Nach der Partie ist die Stimmung gedrückt. Erstmals bleiben die deutschen Männer bei Olympia ohne Team-Medaille. „Wir müssen das verarbeiten“, sagt Roßkopf, „das Ausscheiden und dass es Timos letztes Spiel war.“ Gerne hätten sie ihm ein anderes Ende beschert, doch die Schweden um den Olympia-Zweiten im Einzel, Truls Moregardh, waren zu stark.
Timo Boll hat die Großmacht China lange geärgert
Dass Timo Boll alle Olympia-Medaillen (Silber 2008 und 2021, Bronze 2012 und 2016) mit der Mannschaft errungen hat, passt zu seinem Charakter. Er ist Teamo Boll. Als Ruhepol bezeichnet Ovtcharov ihn. Dang Qiu (27) ergänzt: „Er gönnt jedem jeden Erfolg, egal, wie es für ihn selbst lief. Ich habe Timo kennengelernt, als er schon alles gewonnen hatte, aber er ist so bodenständig geblieben, so umgänglich. Ein großes Vorbild.“
Für Timo Boll war es seit den Spielen 2021 in Tokio immer schwieriger, sich nach Verletzungen zurückzukämpfen. Er spürte noch diese Freude, weiterzuspielen – trotz Gedanken an das Karriereende. Im Mai dann die Entscheidung. Seitdem erlebte Boll viele letzte Male. Das letzte Turnier in China, „das war emotionaler, als ich es erwartet hatte.“ Der Linkshänder faszinierte die Tischtennis-Großmacht, selbst wenn er sie zugleich an der Platte frustrierte.
Timo Boll: Irgendwann Bundestrainer?
Hinter ihm liegt nun eine lange Reise mit großartigen Sportmomenten, die dieser faire und unaufgeregte Sportler Deutschland beschert hat. Er hat Generationen geprägt, ist einer der letzten Namen im deutschen Sport, die wohl beinahe jedem etwas sagen. Tischtennis ohne Timo Boll, es ist kaum vorstellbar. Auch für ihn: „Ich werde sehr viel vermissen, vor allem das Miteinander in den Mannschaftswettbewerben. Ich kenne die Jungs so lange, sie sind wie eine kleine Familie. Und die verliere ich heute. Das ist schon emotional.“ Boll freue sich auf freie Zeit mit seiner Frau Rodelia und Tochter Zoey Malaya. Sein Kumpel Nowitzki habe ihm schon lange in den Ohren gelegen, endlich aufzuhören, damit sie mehr unternehmen können. Jörg Roßkopf weiß, dass er seinen langjährigen Spieler weiterhin sehen werden – nur auf dem Golfplatz statt in der Halle.
Wie es für ihn dann irgendwann weitergeht, wisse er noch nicht. Ein, zwei Jahre Pause wolle er sich gönnen, hier und da reinschnuppern, „um herauszufinden, wo ich helfen kann“. Vielleicht irgendwann als Bundestrainer? „Ach, der Rossi macht einen super Job“, sagt Boll und lacht. Ganz vorbei ist es aber noch nicht. Timo Boll erfüllt noch seinen Vertrag bei seinem Herzensverein Borussia Düsseldorf und spielt noch eine Saison. Es werden ein paar letzte Male folgen.