Paris. Es ist der Wettkampf seines Lebens. Leo Neugebauer hat sich im Zehnkampf am Ende Olympia-Silber gesichert. So lief sein Aufritt in Paris.
Der Speer flog und flog und flog, ehe er bei 66,87 Metern den Rasen des Stade de France durchdrang. Ein Raunen ging durch das Leichtathletik-Stadion von Saint-Denis. Persönliche Bestleistung in der vorletzten Zehnkampfdisziplin bei den Olympischen Spielen in Paris – ein echtes Ausrufezeichen. Nur gelang diese Meisterleistung nicht dem bis dahin auf Goldkurs liegendem Deutschen Leo Neugebauer, sondern Markus Rooth aus Norwegen. Der 22-Jährige schob sich mit seinem großen Wurf kurz vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf auf den ersten Platz. Neugebauer, dessen Schwächen die letzten zwei Disziplinen sind, konnte nicht mehr kontern – Spaß hatte der Strahlemann trotzdem. Er feierte auch die Silbermedaille ausgelassen mit Deutschland-Fahne um den Schultern vor seiner Fankurve.
Olympia 2024: Leo Neugebauer freut sich über Zehnkampf-Silber
Die Sympathien vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf waren klar verteilt: Lautstark begrüßte das Publikum Leo Neugebauer, als dieser die Bahn betrat und mit breitem Lächeln die Energie von den Rängen aufzunehmen schien. Beinahe unbemerkt betrat da Markus Rooth das Stadion. Doch der unscheinbare frühere U23-Europameister gab sich bei der Abschlussqual keine Blöße und sicherte sich mit 8796 Punkten den Olympiasieg vor Neugebauer (8748) und dem WM-Dritten Lindon Victor aus Grenada (8711). Der frühere Welt- und Europameister Niklas Kaul wurde Achter (8445). Der dritte Deutsche Till Steinforth belegte mit 8170 Punkten den 15. Platz.
Wie ausgelassen Neugebauer die gemeinsame Ehrenrunde der Zehnkämpfer bestritt, machte deutlich: Die Freude über gewonnenes Silber war größer als die Enttäuschung über verlorenes Gold. Leo Neugebauer sicherte zudem die erste deutsche Zehnkampfmedaille seit 28 Jahren – damals hatte Frank Busemann mit Überraschungssilber in Atlanta begeistert.
Neugebauer verpasst Olympia-Gold - dabei waren die Vorzeichen gut
In Paris waren die Vorzeichen jedoch andere. Als Weltjahresbester war Leo Neugebauer in die französische Hauptstadt gereist. 8961 Punkte hatte der 24-Jährige bei den College-Meisterschaften in den USA für die Universität in Texas bereits im Juni erreicht – und damit seinen eigenen deutschen Rekord verbessert. Die magische Marke von 9000 Punkten schien zum Greifen nahe – ebenso das olympische Zehnkampfgold. Neugebauer, den Eindruck hatte man, konnte sich bei diesen Spielen nur selber schlagen.
Doch die hohen Belastungen aus seiner letzten Saison als College-Athlet – vielleicht hatten sie doch Spuren hinterlassen, an den Kräften dieses wie in Stein gemeißelten Athleten mit dem locker flockigen Gemüt gezerrt. Einen Siebenkampf in der Halle und zwei komplette Zehnkämpfe hatte Neugebauer für die Universität von Texas bereits in diesem Jahr absolviert. Sowohl drinnen als auch draußen lieferte er deutsche Rekorde ab. Hatte er sein Pulver nun schon vor dem eigentlichen Höhepunkt verschossen?
Neugebauer zeigte durchaus starke Leistungen, in fast allen Disziplinen lieferte er ähnlich ab wie bei seinem deutschen Rekord. Doch gerade am zweiten Tag war er immer einen Tick unter seinen Vorleistungen geblieben. Bei Markus Rooth war es genau andersherum: Er war fast überall besser als zuvor. In sieben Disziplinen lieferte er Bestleistungen ab, fünfmal war er stärker als jemals zuvor. So wünscht es sich jeder Athlet: Wenn es drauf ankommt, alles abrufen können, wofür man vier Jahre lang trainiert hat. Neugebauer indes fehlten diese Ausreißer nach oben.
Trotzdem hatte er den ersten Tag – seinen stärkeren – als Führender beendet und zeigte sich zufrieden. Ordentlich Nudeln und Reis essen, ein bisschen dehnen und dann gut schlafen – das war sein Plan für die Nacht gewesen. Die Vorbereitung auf den vielleicht wichtigsten Tag in seiner Karriere sollte nach gewohnten Routinen laufen. „Die Arbeit ist noch nicht einmal nahezu fertig“, sagte er. Sein Plan: „Cool bleiben und einfach mein Ding machen“.
Olympia 2024: Neugebauer gibt sich cooler als in Budapest
Leo Neugebauer hatte bei seinem ersten Olympia-Auftritt aus den Erfahrungen der WM vor einem Jahr in Budapest gelernt. Viel ruhiger, konzentrierter, klarer in seinem Fokus trat er in Paris an. Das Spiel mit dem Publikum beschränkte er auf gelegentliche Bitten ums Anklatschen sowie Jubelfäuste und Luftküsschen, wenn ihm ein Wurf oder ein Sprung besonders gut gelang. Viel weniger Energie als noch in Budapest ließ er bei er Animation der Fans. Aber: „Die Stimmung hier im Stadion hat echt Bock auf mehr gemacht.“
Er genoss sie auch an Tag zwei. Vor den letzten zwei Disziplinen lag er immer noch auf Goldkurs und 139 Punkte vor Verfolger Rooth. Der war auch deshalb zum ärgsten Konkurrenten geworden, weil es im Stabhochsprung-Wettbewerb zu einem Kuriosum gekommen war. Sowohl Tokio-Olympiasieger Damian Warner aus Kanada als auch Vizeeuropameister Sander Skotheim aus Norwegen leisteten sich einen Salto Nullo und schieden damit aus. Der Este Johannes Erm blieb zudem dermaßen unter seinen Möglichkeiten, dass er keine Chance mehr hatte, anschließend noch den Thron der Alleskönner für sich zu beanspruchen. So war die Bühne bereitet für den großen Triumph von „Leo the German“, wie sein selbst gewählter Spitzname lautet. Doch ein junger Norweger hatte an diesem Abend etwas dagegen.
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