Vaires-sur-Marne. Olympiasiegerin Ricarda Funk ist im Wildwasserkanal auf Medaillenkurs. Ein Fehler kurz vor dem Schluss löst große Emotionen aus.

Der schwierigste Teil ihres Parcours beginnt für Slalomkanutin Ricarda Funk nicht im Wasser, sondern an Land. So wie die Sonne auf den Köpfen der 15.000 Zuschauer im Stade Nautique in Vaires-sur-Marne vor den Toren von Paris brennt sich gerade auf dem Weg dorthin, wo sie alleine sein kann, die Enttäuschung in ihr Gedächtnis ein. „Ich werde es tief in meinem Herzen einschließen“, sagt die Olympiasiegerin in Tokio und schluckt schwer, „auch wenn ich nicht zeigen konnte, was ich drauf habe.“ Tränen laufen ihr später die Wange herunter. Großes Drama und Platz elf statt erneut Goldmedaille.

Vier Augenringe für Olympia

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    Oder zumindest eine andersfarbige Plakette, wenn nicht dieser eine Fehler am viertletzten der 23 Tore die 32-Jährige den möglichen Podestplatz gekostet hätte. Mit dem Helm berührte Ricarda Funk den linken Teil des von vorne zu durchfahrenden Gestänges. Es wirkte von den Tribünen so, als habe sie in dem Moment gleich realisiert, was dies zu bedeuten habe, und sich geärgert, mit dem Paddel auf die Seitenumrandung des Wildwasserkanals geschlagen. Gewiss war: Strafzeit, mindestens zwei, im schlimmsten Fall sogar 50 Sekunden, wenn das Tor als nicht passiert gewertet wird. Aber: „Mit zwei Sekunden kann man ja immer noch hoffen. Ich habe aber es erst im Ziel verstanden, als da die 50 Sekunden standen.“ Die Dauer der Strafe ordnete sie auch als korrekt ein: „Im Ziel habe ich das Video gesehen und muss dem leider zustimmen.“

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    Glatte 53 Sekunden Rückstand also auf die Siegerin, die überragende Fahrerin der Saison, Jessica Fox (96,08 Sekunden) aus Australien. Ob sie nun gehadert hat oder nicht: Macht sie aus der großen eine kleine Strafe, hätten fünf Sekunden mehr auch nicht mehr gereicht für Silber und Bronze, das an die Polin Klaudia Zwolinska (plus 1,45 Sekunden) und die Britin Kimberley Woods (+ 2,86) gingen. „Wenn man Risiko gehen und die engen Routen fahren will, kann das schon mal passieren. Ein paar Millimeter am Kopf können den Unterschied machen“, sagt Ricarda Funk. Besser als vorher gedacht sei sie unterwegs gewesen. „In einem Olympia-Finale muss man Risiko gehen, da gewinnt man nichts mit Sicherheit. Mich ärgert’s, denn ich war auf der richtigen Linie.“

    Ricarda Funk: Gold in Tokio, aber endlich die Familie in Paris

    Der Moment, in dem der Traum von der Olympia-Medaille platzt: Titelverteidigerin Ricarda Funk berührt im Wildwasserkanal mit dem Kopf eine Stange. 50 Strafsekunden und am Ende Platz elf für die 32-Jährige.
    Der Moment, in dem der Traum von der Olympia-Medaille platzt: Titelverteidigerin Ricarda Funk berührt im Wildwasserkanal mit dem Kopf eine Stange. 50 Strafsekunden und am Ende Platz elf für die 32-Jährige. © Getty Images | Justin Setterfield

    Es hätten ihre Spiele werden sollen, was sich komisch anhört bei einer Titelverteidigerin, die also schon Gold in der Tasche hat. 2016 hatte die viermalige Weltmeisterin die Qualifikation für Rio noch verpasst, in Brasilien starb dann ihr Trainer während der Olympischen Spiele bei einem tragischen Autounfall. „2016 war ein Scheißjahr für mich“, sagte Funk vor dem Wettkampf, wie sie immer noch regelmäßig in Gedanken bei Henze sei. 2021 bei den wegen der Corona-Pandemie verschobenen Wettkämpfen in Tokio dann der Gold-Coup – allerdings ohne familiäre Unterstützung in Japan und unter dem Eindruck der Überschwemmungen und Flut im Ahrtal mit 135 Opfern. „Mein olympischer Traum hatte irgendwie anders ausgesehen“, so Funk, die im Kreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz aufgewachsen ist.

    Nun also Frankreich, echte Spiele mit Zuschauern – darunter Freunde und Familie – auf den Steiltribünen am Stade Nautique. Schnellste im Halbfinale am Nachmittag gewesen zu sein, machte Ricarda Funk Mut für die Entscheidung am frühen Abend: „Es war schon eine Herausforderung, als Olympiasiegerin hier zu sein und als Letzte aus der Startbox zu gehen. Ich bin so stolz auf mich, dass ich das so angenommen und mir gesagt habe: Hej, das ist mein Moment. Alle warten nur noch auf mich – und ich entscheide hier, was abgeht.“ Jesscia Fox musste im Ziel als Führende lange bibbern, bis die Gewissheit über Gold da war. In Tokio war die Australierin als Letzte gestartet, hatte sich aber nur noch hinter der Deutschen einsortieren können. „Ich würde jetzt selbst gerne dort stehen und feiern“, sagt Ricarda Funk und lässt den Tränen wieder freien Lauf. „Aber die anderen arbeiten ja auch hart.“

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